Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Optimisten, einer von denen, die das Gute jederzeit willkommen heißen, aber das Schlechte nicht schlucken können. Mir drehte sich der Magen um, als ich ihn so zerbrechen sah, und je länger er sich in seinem Schmerz suhlte, desto mehr verlor ich das Vertrauen zu ihm. Wenn Mrs. Witherspoon nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht das Handtuch geworfen und wäre abgehauen. «Dein Meister ist ein großer Mann», sagte sie eines Morgens zu mir, «und große Männer haben große Gefühle. Sie empfinden mehr als andere Menschen – größere Freude, größere Wut, größeren Kummer. Jetzt leidet er, und bei ihm wird das länger dauern als bei anderen. Lass dich nicht davon abschrecken, Walt. Er wird schon darüber hinwegkommen. Du musst nur Geduld haben.»
    Das waren ihre Worte, aber tief im Innern bin ich mir nicht so sicher, ob sie selbst dran glaubte. Im Lauf der Zeit spürte ich, dass sein Verhalten sie genauso empörte wie mich, und es gefiel mir, dass wir beide in einer so wichtigen Angelegenheit einer Meinung waren. Die Frau war mit allen Wassern gewaschen, und jetzt, wo ich bei ihr im Haus wohnte und jeden Tag in ihrer Gesellschaft verbrachte, merkte ich, dass wir viel mehr gemeinsam hatten, als ich gedacht hatte. Bei ihren Besuchen auf der Farm hatte sie sich von ihrer besten Seite gezeigt, sehr sittsam und züchtig, um bei Äsop und Mutter Sioux keinen Anstoß zu erregen, aber jetzt, in ihren eigenen vier Wänden, konnte sie sich gehenlassen und ihr wahres Wesen entfalten. In den ersten beiden Wochen überraschte es mich immer wieder, wie viele schlechte Angewohnheiten und wie viel hemmungsloser Eigennutz in diesem Wesen steckten. Ich rede jetzt nicht bloß von ihrer Vorliebe für Schnaps (mindestens sechs oder sieben Gin Tonic am Tag) und auch nicht von ihrer leidenschaftlichen Raucherei (sie qualmte von morgens bis abends Picayunes und Sweet Corporals), sondern von einer gewissen allgemeinen Laxheit, als ob hinter ihrem damenhaften Äußeren eine liederliche Schlampenseele nur darauf wartete, sich endlich freizumachen. Am verräterischsten war ihr Mund: Sobald sie ein paar Gläser ihres Lieblingsgesöffs intus hatte, erging sie sich in einer Ausdrucksweise, so derb und ordinär, wie ich es selten von einer Frau gehört habe, und warf schneller mit Zoten um sich, als ein MG Kugeln verspritzt. Nach meinem tugendhaften Leben auf der Farm fand ich es sehr erfrischend, mit jemandem zusammenzusein, der keine hehren moralischen Ziele hatte und dessen einziger Lebenszweck es war, sich zu amüsieren und so viel Kohle wie möglich zu scheffeln. Und so wurden wir Freunde und ließen, während wir uns durch die Hundstage und die Langeweile des heißen Sommers von Wichita schleppten, Meister Yehudi mit seinem Kummer allein.
    Ich wusste, dass sie mich gernhatte, aber ich will die Tiefe ihrer Zuneigung, zumindest in dieser frühen Phase, nicht übertrieben darstellen. Mrs. Witherspoon hatte einen handfesten Grund, mich bei Laune zu halten, und obwohl ich mir gern damit schmeicheln würde, dass sie in mir eben einen vortrefflichen Gefährten, einen geistreichen, verwegenen Burschen gefunden hatte, dachte sie in Wirklichkeit doch nur an das Wohlergehen ihres Bankkontos. Warum hätte sich eine so kluge und attraktive Frau sonst mit einem stummelschwänzigen Milchbart wie mir abgeben sollen? Ich war eine geschäftliche Perspektive für sie, ein Dollarzeichen in Gestalt eines kleinen Jungen, und sie wusste, dass sie es, wenn meine Karriere mit der gehörigen Umsicht und Klugheit aufgebaut würde, zur reichsten Frau in dreizehn Counties bringen konnte. Ich behaupte nicht, dass wir nicht schöne Zeiten miteinander verbrachten, aber das stand alles bloß im Dienst ihrer eigenen Interessen: Sie schmierte mir Honig ums Maul und zog mich auf ihre Seite, um mich bei der Stange zu halten, um sicherzustellen, dass ich mich nicht aus dem Staub machte, ehe sie aus meinem Talent Kapital geschlagen hatte.
    Was soll’s. Ich mache ihr keinen Vorwurf draus, an ihrer Stelle hätte ich wohl genauso gehandelt. Trotzdem kann ich nicht verhehlen, wie sehr es mich manchmal kränkte, dass meine Kunst so wenig Eindruck auf sie machte. In all diesen öden Wochen und Monaten hielt ich mich fit, indem ich täglich mindestens ein bis zwei Stunden meine Nummer übte. Um nicht die Leute zu erschrecken, die am Haus vorbeifuhren, trainierte ich nur drinnen, bei zugezogenem Rollo im Wohnzimmer in der oberen Etage. Mrs. Witherspoon ließ sich nur selten

Weitere Kostenlose Bücher