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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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selbst von solchen Sensationen nichts mitbekamen. Hätte sie den weiten Weg gescheut, dann hätten wir nie was davon erfahren. Mir ist es immer seltsam vorgekommen, dass Lindberghs Rekordflug so genau mit meinen eigenen Anstrengungen zusammenfiel, dass zur selben Zeit, als er den Ozean überquerte, ich über meinen kleinen Teich in Kansas schwebte – wir beide gemeinsam in der Luft, jeder für sich und doch gleichzeitig sein Meisterstück machend. Es war, als hätte sich plötzlich der Himmel dem Menschen aufgetan, und wir waren die Ersten, die Pioniere, Kolumbus und Magellan des Menschenflugs. Der Name Lindbergh sagte mir gar nichts, doch nun fühlte ich mich mit ihm verbunden wie mit einem unbekannten Bruder. Es konnte kein Zufall sein, dass sein Flugzeug Spirit of St. Louis hieß. Denn das war auch meine Stadt, die Stadt der Meister und Helden des zwanzigsten Jahrhunderts, und Lindbergh hatte, ohne was davon zu ahnen, sein Flugzeug mir zu Ehren so genannt.
    Mrs. Witherspoon blieb ein paar Tage bei uns. Nachdem sie abgereist war, machten der Meister und ich uns wieder an die Arbeit, wobei wir unsere Bemühungen nun vom Schwingen aufs Schweben verlagerten. Die horizontale Bewegung hatte ich nach Kräften perfektioniert; jetzt war die vertikale an der Reihe. Lindbergh inspirierte mich, das will ich gern zugeben, aber ich wollte ihn noch übertreffen: Was er mit einer Maschine geschafft hatte, wollte ich mit dem Körper leisten. In kleinerem Maßstab, das wohl, dafür aber unermesslich grandioser, eine Tat, die seinen Ruhm über Nacht in den Schatten stellen würde. Aber trotz aller Anstrengungen kam ich nun keinen Zentimeter mehr weiter. Nachdem wir uns, beide gleichermaßen verzagend ob der selbstgestellten Aufgabe, anderthalb Wochen lang da draußen am Teich abgequält hatten, schaffte ich es noch immer kein bisschen höher als vorher. Und dann, am Abend des 5. Juni, machte Meister Yehudi einen Vorschlag, der schließlich die Wende herbeiführte.
    «Es ist nur so eine Idee», sagte er, «aber könnte es nicht an deinem Halsband liegen? Es wiegt zwar höchstens fünfzig Gramm, aber in Anbetracht der Mathematik dessen, was du zu erreichen suchst, ist das vielleicht schon zu viel. Mit jedem Millimeter, den du höher steigst, nimmt das Gewicht des Gegenstandes in geometrischem Verhältnis zu – das heißt, wenn du fünfzehn Zentimeter über dem Boden schwebst, trägst du vierzig Pfund mehr mit dir herum. Also die Hälfte deines Körpergewichts. Wenn meine Rechnung stimmt, ist es kein Wunder, dass du solche Schwierigkeiten hast.»
    «Ich trag das Ding seit Weihnachten», sagte ich. «Es ist mein Talisman, und ohne den kann ich gar nichts.»
    «Doch, du kannst, Walt. Als du das erste Mal aufgestiegen bist, habe ich es um den Hals getragen, weißt du noch? Ich sage nicht, du hättest keine Gefühlsbindung daran, aber wir mischen uns hier in höchst spirituelle Angelegenheiten ein, und da könnte es sein, dass du nicht mit ganzem Herzen bei deiner Aufgabe bist, dass du einen Teil deiner selbst zurücklassen musst, bevor du deine Gabe vollständig ausschöpfen kannst.»
    «Das ist doch nur Gelaber. Ich trag ja auch Kleider, oder? Und Schuhe und Strümpfe. Wenn mich das Halsband runterzieht, müssen diese Sachen es auch tun. Und eines steht felsenfest, splitternackt führe ich meine Fliegerei bestimmt nicht in der Öffentlichkeit vor.»
    «Ein Versuch kann nichts schaden. Du hast nichts zu verlieren, Walt, du kannst nur gewinnen. Wenn ich mich irre, na gut. Wenn aber nicht, wäre es jammerschade, wenn wir die Chance versäumt hätten, es wenigstens zu versuchen.»
    Überredet, aber sehr skeptisch und widerwillig, legte ich den Glücksbringer ab und gab ihn dem Meister. «Na schön», sagte ich, «probieren wir’s mal aus. Aber wenn Sie falsch getippt haben, ist das Thema ein für alle Mal erledigt.»
    Im Lauf der nächsten Stunden erreichte ich Höhen um dreißig Zentimeter und übertraf damit meinen bisherigen Rekord um das Doppelte. Bei Einbruch der Dunkelheit schaffte ich schon fast achtzig Zentimeter, womit erwiesen war, dass sich Meister Yehudi nicht getäuscht und Ursachen und Wirkungen der Levitationskunst mit prophetischem Scharfblick durchschaut hatte. Es war ein phantastisches Gefühl – so hoch über dem Boden zu schweben, buchstäblich kurz davor, richtig zu fliegen –, bloß dass ich in dieser Höhe Probleme bekam, mich senkrecht zu halten, ohne ins Schwanken zu geraten und Schwindelanfälle zu

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