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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Freunde vor meinen Augen ermordet, und ich konnte bloß zusehen und kämpfte gegen die Tränen an, während mir Meister Yehudi krampfhaft den Mund zuhielt. Danach steckten zwei der Männer ein Holzkreuz in den Boden, übergossen es mit Benzin und zündeten es an. Das Kreuz brannte, das Haus brannte, die Männer stießen wieder ihr Jubelgeschrei aus, schossen noch ein paar Salven Schrot in die Luft, dann stiegen sie auf ihre Pferde und ritten in Richtung Cibola davon. Inzwischen war das Haus ein Flammenmeer, ein glühendheißer Feuerball aus brüllendem Holz, und als die Männer verschwunden waren, brach das Dach ein und krachte in einem Schauer von Funken und Meteoren auf den Boden. Ich fühlte mich, als hätte ich die Sonne explodieren gesehen. Ich fühlte mich, als hätte ich das Ende der Welt erlebt.

[zur Inhaltsübersicht]
    II
    Noch am selben Abend legten wir die Leichen in zwei unmarkierte Gräber neben der Scheune. Wir hätten für sie beten sollen, aber unsere Lungen waren zu sehr mit Schluchzen beschäftigt, drum sagten wir gar nichts, sondern deckten sie einfach schweigend mit Erde zu und spürten nur das salzige Wasser auf unseren Wangen. Danach, ohne noch mal zu dem schwelenden Haus zurückzugehen, ohne uns drum zu kümmern, ob irgendwas von unseren Habseligkeiten noch unbeschädigt war, spannten wir die Stute vor den Wagen, fuhren in die Dunkelheit und ließen Cibola für immer hinter uns.
    Wir brauchten die ganze Nacht und den halben Vormittag bis zu Mrs. Witherspoons Haus in Wichita, und den Rest dieses Sommers war der Meister so tief in seinen Schmerz versunken, dass ich dachte, er würde selbst sterben. Er verließ nur selten das Bett, er aß fast nichts, er sprach kaum ein Wort. Wenn ihm nicht alle drei, vier Stunden die Tränen aus den Augen geströmt wären, hätte man gar nicht sagen können, ob man einen Menschen oder einen Stein vor sich hatte. Der große Mann war fix und fertig, zerrissen von Schmerz und Selbstvorwürfen, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er endlich damit aufhörte – aber im Lauf der Wochen wurde es immer schlimmer. «Ich habe es kommen sehen», murmelte er manchmal vor sich hin. «Ich habe es kommen sehen, und ich habe nichts dagegen unternommen. Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass sie tot sind. Genauso gut hätte ich sie mit meinen eigenen Händen umbringen können, und wer tötet, verdient keine Gnade. Er verdient nicht zu leben.»
    Es entsetzte mich, ihn so nutzlos und träge zu sehen, und auf die Dauer machte es mir kein bisschen weniger Angst als das, was mit Äsop und Mutter Sioux passiert war – womöglich gar noch mehr. Das soll jetzt nicht kaltherzig klingen, aber das Leben gehört nun mal den Lebenden; natürlich hatte mich das Massaker an meinen Freunden schockiert, aber ich war ja noch immer ein Kind, ein kleiner Springinsfeld mit Hummeln im Hintern und Gummi in den Knien, und ich war eben nicht der Typ, der sich lange mit Jammern und Wehklagen abgab. Ich vergoss meine Tränen, ich verfluchte Gott, ich schlug mit dem Kopf auf den Boden, aber nach ein paar Tagen hatte ich das hinter mir und wollte mich neuen Dingen zuwenden. Das spricht wohl nicht sonderlich für mich, aber es hat keinen Sinn, Gefühle zu heucheln, die einfach nicht da waren. Ich vermisste Äsop und Mutter Sioux, ich sehnte mich nach ihnen – aber sie waren weg, da half kein Bitten und Betteln, sie würden nicht zurückkommen. Was mich anging, wurde es langsam Zeit, dass wir uns auf die Socken machten. Mir schwirrte noch immer der Kopf von meiner neuen Karriere, und so gemein meine Träume davon sein mochten, ich konnte es kaum erwarten, endlich loszulegen, mich zum Firmament aufzuschwingen und die Welt mit meiner Größe zu blenden.
    Man stelle sich daher meine Enttäuschung vor, als der Juni verging, dann der Juli, und Meister Yehudi noch immer darniederlag; man stelle sich vor, wie meine Stimmung sank, als er auch im August noch immer nicht über die Tragödie hinweggekommen war. Nicht nur, dass das meine Pläne störte, ich fühlte mich auch verstoßen, verarscht, im Stich gelassen. Das Ganze offenbarte mir einen fundamentalen Charakterfehler des Meisters, und ich nahm es ihm ziemlich übel, dass er innerlich so wenig abgehärtet war und dem beschissenen Leben nicht ins Auge blicken wollte. Ich hatte mich so viele Jahre lang auf ihn verlassen, hatte so viel Kraft aus seiner Stärke bezogen, und jetzt führte er sich auf wie irgendeiner von diesen verdammten

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