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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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bekommen. Es war alles so neu für mich da oben, dass ich mein natürliches Gleichgewicht einfach nicht finden konnte. Ich kam mir irgendwie so lang vor, als sei ich nicht aus einem Stück gemacht, sondern aus Teilen zusammengesetzt; Kopf und Schulter strebten in die eine Richtung, Füße und Beine in die andere. Um nicht umzukippen, versuchte ich in die Bauchlage überzugehen, denn ich merkte instinktiv, dass es sicherer und bequemer wäre, nicht nur die Fußsohlen, sondern den ganzen Körper parallel zum Boden zu haben. Noch war ich zu nervös, als dass ich in dieser Haltung ans Fliegen denken konnte, aber am späten Abend, kurz bevor wir Schluss machten und schlafen gingen, drückte ich den Kopf an die Brust und vollführte mitten in der Luft, ohne ein einziges Mal den Boden zu berühren, einen langsamen Purzelbaum, einen vollständigen, ununterbrochenen Salto.
    Freudetrunken fuhren der Meister und ich an diesem Abend zum Haus zurück. Jetzt schien uns alles möglich: die Beherrschung des Schwebens und Schwingens, der Aufstieg zum richtigen Flug, der Traum aller Träume. Ich glaube, das war unser erhabenster gemeinsamer Augenblick, der Augenblick, wo unsere ganze Zukunft endlich Gestalt annahm. Jedoch schon am Abend des 6. Juni, nur einen Tag nach diesem Höhepunkt, war es mit meinem Training jäh und unwiderruflich aus und vorbei. Es stellte sich nämlich ein, was Meister Yehudi so lange befürchtet hatte, und es traf uns mit solcher Wucht, warf uns so vollständig und vernichtend aus der Bahn, dass wir danach nie mehr so weitermachen konnten wie vorher.
    Ich hatte den ganzen Tag gut gearbeitet, und wir beschlossen, auch noch den Abend auszunutzen, wie wir es in diesem wunderbaren Frühling oft zu tun pflegten. Um halb acht aßen wir die Butterbrote, die Mutter Sioux uns am Morgen eingepackt hatte, und machten uns dann in der zunehmenden Dämmerung wieder an die Arbeit. Kurz vor zehn hörten wir das Geräusch von Pferdehufen. Zunächst bloß ein kaum vernehmliches Rumpeln, ein leichtes Beben des Bodens, das mich an fernen Donner denken ließ, als ob sich irgendwo weit draußen ein Gewitter zusammenbraute. Ich hatte grade am Teichrand einen doppelten Salto absolviert und wartete auf den Kommentar des Meisters – doch statt mit seiner normalen, ruhigen Stimme zu sprechen, packte er mich plötzlich mit einer panischen Geste am Arm. «Hör mal», sagte er. Und dann noch mal: «Hör genau hin. Sie kommen. Da kommen sie, diese Schweine.» Ich spitzte die Ohren, und tatsächlich, das Geräusch wurde immer lauter. Nach ein paar Sekunden begriff ich, dass es Pferde waren, ein wildes Getrappel von Hufen, die auf uns zugaloppierten.
    «Halt still», sagte der Meister. «Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht, bis ich zurück bin.»
    Dann rannte er ohne ein Wort der Erklärung wie ein Sprinter über die Felder in Richtung des Hauses davon. Ich ignorierte seine Anweisung und setzte ihm nach, so schnell mich die Füße trugen. Bis zum Haus war es eine gute Viertelmeile, aber wir hatten noch keine hundert Meter zurückgelegt, als wir schon die Flammen sahen: ein rotgelbes Glühen, das pulsierend in den schwarzen Himmel schlug. Wir hörten Grölen und Kriegsgeheul, eine Salve von Schüssen und schließlich unverkennbar die Angstschreie von Menschen. Der Meister rannte weiter und bekam immer mehr Vorsprung, doch als er die Eichen hinter der Scheune erreicht hatte, blieb er stehen. Ich wollte zum Haus und war schon am Rand der Bäume, als mich der Meister aus den Augenwinkeln erblickte und zu Boden warf, bevor ich noch einen weiteren Schritt tun konnte. «Wir kommen zu spät», sagte er. «Wenn wir jetzt da reingehen, wird man uns umbringen. Es sind zwölf Mann, wir sind nur zu zweit, und die sind mit Büchsen und Gewehren bewaffnet. Bete zu Gott, dass sie uns nicht entdecken, Walt, aber den anderen können wir nicht helfen, da ist nichts zu machen.»
    Und so mussten wir hilflos hinter den Bäumen stehen und zusehen, wie der Ku-Klux-Klan sein Werk verrichtete. Ein Dutzend Männer tänzelte auf einem Dutzend Pferden auf dem Hof umher, eine johlende Meute von Mördern mit weißen Laken über den Köpfen – und wir konnten sie nicht von ihrem Tun abhalten. Sie zerrten Äsop und Mutter Sioux aus dem brennenden Haus, legten ihnen Schlingen um den Hals und knüpften sie an zwei Ästen der Ulme am Straßenrand auf. Äsop kreischte, Mutter Sioux blieb stumm, und binnen Minuten waren sie beide tot. Da wurden meine beiden besten

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