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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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haben, bist du wieder so gut wie neu.»
    Was blieb mir übrig, als ihr zu folgen? Aber es war ganz schön schrecklich, mit der glitschigen Suppe in der Hose aufstehen und gehen zu müssen, und da ich mein Schluchzen noch immer nicht unter Kontrolle hatte, drangen mir allerlei unheimliche, halb erstickte Laute aus der krampfhaft bebenden Brust. Mrs. Witherspoon ging mir zum Teich voran. Er lag ungefähr dreißig Meter abseits der Straße, ein Gestrüpp aus dürren Büschen und Bäumen schirmte ihn von der Umgebung ab, eine kleine Oase mitten in der Prärie. Am Wasser angekommen, forderte sie mich in sachlichem Ton auf, mich auszuziehen. Ich wollte nicht, jedenfalls nicht vor ihren Augen, doch als mir klar wurde, dass sie mir nicht den Rücken zuwenden würde, senkte ich den Blick zu Boden und ergab mich in mein schlimmes Schicksal. Als Erstes zog sie mir Schuhe und Strümpfe aus; dann löste sie mir kurzentschlossen den Gürtel, knöpfte den Hosenschlitz auf und zog. Hose und Unterhose fielen mir mit einem Ruck auf die Knöchel, und da hielt ich nun also vor einer erwachsenen Frau meinen Schwanz in den Wind, die weißen Beine mit brauner Schmiere bekleckert, das Arschloch stinkend wie der Müll von gestern. Es war zweifellos einer der Tiefpunkte meines Lebens, aber ich rechne es Mrs. Witherspoon hoch an (und habe es ihr nie vergessen), dass sie keinerlei Kommentar dazu abgab. Sie ächzte nicht angewidert, sie stöhnte nicht, sondern tauchte mit der Zärtlichkeit einer Mutter, die ihr Neugeborenes wäscht, ihre Hände ins Wasser und säuberte mich, befeuchtete und schrubbte meine nackte Haut, bis von der ganzen Schande nichts mehr zu sehen war.
    «Na also», sagte sie, als sie mich mit einem Taschentuch aus ihrer perlenbesetzten Handtasche trockentupfte. «Aus den Augen, aus dem Sinn.»
    «Schön und gut», sagte ich, «aber was machen wir mit der versauten Unterhose?»
    «Die lassen wir den Vögeln hier, und die Hose gleich mit.»
    «Und Sie glauben, dass ich so nach Hause fahre? Barfuß bis zum Bauchnabel?»
    «Warum nicht? Das Hemd geht dir bis zu den Knien, außerdem hast du sowieso nicht viel zu verstecken, Junge. Oder meinst du, die Leute laufen mit Mikroskopen durch die Gegend?»
    «Keine abfälligen Bemerkungen über mein Geschlechtsteil, Madam. Für Sie mag es ja ’ne Lappalie sein, aber ich bin trotzdem stolz drauf.»
    «Natürlich bist du das. Hast ja auch ein niedliches kleines Schwänzchen, Walt, und so blanke Eierchen, und so einen glatten Kinderpopo. Du hast alles, was ein Mann braucht» – jetzt nahm sie zu meinem großen Erstaunen den ganzen Apparat in die Hand und schüttelte ihn ordentlich durch –, «aber noch bist du nicht ganz so weit. Außerdem wird dich im Auto keiner sehen. Wir lassen die Eisdiele heute mal aus und fahren direkt nach Hause. Wenn es dir lieber ist, schmuggle ich dich durch die Hintertür hinein. Was meinst du? Ich bin die Einzige, die was davon weiß, und ich geb dir mein Wort darauf, dass ich keinem was davon erzählen werde.»
    «Nicht mal dem Meister?»
    «Dem Meister schon gar nicht. Was heute hier draußen passiert ist, bleibt ganz unter uns.»
    Sie konnte ein prima Kumpel sein, diese Frau, und wenn es wirklich drauf ankam, war sie die beste von allen. Aber bei anderen Gelegenheiten wurde ich einfach nicht schlau aus ihr. Kaum hielt man sie für die beste Freundin, schwenkte sie um und tat irgendwas Unerwartetes – zog einen auf, schnauzte einen an, behandelte einen wie Luft –, und sofort war die schöne kleine Welt, in der man gelebt hatte, zerstört. Das Verhalten der Erwachsenen war mir oft noch unbegreiflich, aber langsam kam ich dahinter, dass ihr Meister Yehudi schrecklich fehlte. Während sie drauf wartete, dass er endlich wieder vernünftig wurde, machte der Suff sie immer trübseliger, und wenn dieser Zustand nicht bald aufhörte, würde es ein schlimmes Ende mit ihr nehmen.
    Die Wende kam zwei Tage nach der Hosenscheißerei. Wir saßen abends auf Liegestühlen im Garten, sahen den Leuchtkäfern zu, die zwischen den Sträuchern hin und her sausten, und lauschten dem blechernen Gesang der Grillen. Damals, in den sogenannten wilden zwanziger Jahren, galt so was schon als erstklassige Unterhaltung. Tut mir ja leid, eine populäre Legende schlechtzumachen, aber ich wüsste nicht, was damals in Wichita wild gewesen sein soll, und nachdem wir das verschlafene Kaff zwei Monate lang nach Lärm und Zerstreuung abgesucht hatten, waren uns die vorhandenen

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