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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Möglichkeiten mehr als langweilig geworden. Wir hatten sämtliche Filme gesehen, alle Eissorten durchprobiert, an jedem Flipper gespielt, auf jedem Karussell eine Runde gedreht. Es lohnte die Mühe nicht mehr, noch weiter auszugehen, drum blieben wir ein paar Abende hintereinander einfach zu Hause und gaben uns der Erschlaffung hin, die sich wie eine tödliche Krankheit in uns ausbreitete. Ich weiß noch, dass ich an dem Abend an einem Glas schaler Limonade lutschte, während Mrs. W. sich mal wieder volllaufen ließ; seit ungefähr einer Dreiviertelstunde hatte keiner von uns einen Pieps gesagt.
    «Früher», meinte sie schließlich aus ihren Grübeleien heraus, «früher habe ich immer gedacht, er wäre der tollste Kerl, der mir je über den Weg gelaufen ist.»
    Ich trank einen Schluck, sah zu den Sternen am nächtlichen Himmel auf und gähnte. «Wer?», fragte ich und gab mir nicht die Mühe zu verbergen, wie gelangweilt ich war.
    «Das fragst du noch, Blödhammel?» Sie sprach so undeutlich, dass man sie kaum verstehen konnte. Wenn ich sie nicht besser gekannt hätte, hätte ich sie für eine unterbelichtete Schnapsdrossel gehalten.
    «Ach so», sagte ich, als mir plötzlich aufging, worauf sie hinauswollte.
    «Ja, genau der, du Herr der Lüfte. Genau den meine ich.»
    «Tja, dem geht’s schlecht, Ma’am, das wissen Sie, und wir können nur hoffen, dass seine Seele wieder gesund wird, ehe es zu spät ist.»
    «Ich rede nicht von seiner Seele, du Hornochse. Sondern von seinem Schwengel. Den hat er ja wohl noch?»
    «Nehm ich an. Aber es ist nicht meine Art, ihn danach zu fragen.»
    «Jedenfalls hat ein Mann seine Pflicht zu erfüllen. Er kann sein Mädel nicht zwei Monate lang auf dem Trockenen sitzen lassen und sich einbilden, er käme ungestraft damit durch. So läuft das nicht. Eine Muschi braucht Liebe. Sie will gestreichelt und gefüttert werden, genau wie jedes andere Tierchen.»
    Obwohl es dunkel war und mich keiner sehen konnte, spürte ich, dass ich rot wurde. «Wollen Sie darüber wirklich mit mir reden, Mrs. Witherspoon?»
    «Ich hab ja sonst keinen, Schätzchen. Und außerdem bist du alt genug, um über diese Dinge Bescheid zu wissen. Oder willst du etwa wie all diese anderen Dummköpfe durchs Leben gehen?»
    «Ich dachte immer, die Natur sorgt schon für sich selber.»
    «Da bist du auf dem Holzweg. Ein Mann muss was tun für sein Honigtöpfchen. Er muss sehen, dass der Stöpsel drin ist und der Saft nicht rausläuft. Hörst du mir überhaupt zu?»
    «Ich glaub schon.»
    «Du glaubst schon? Was ist das denn für eine dämliche Antwort?»
    «Ja, ich hör Ihnen zu.»
    «Es ist ja nicht so, als ob ich bei anderen keine Chancen hätte. Ich bin jung und gesund, und ich habe es satt, dauernd nur so abzuwarten. Den ganzen Sommer hab ich’s mir selbst gemacht, und jetzt bringt’s das einfach nicht mehr. Kann ich mich noch deutlicher ausdrücken?»
    «Was ich so höre, haben Sie dem Meister schon dreimal einen Korb gegeben.»
    «Na und? Die Dinge ändern sich eben, du Schlauberger.»
    «Kann sein, kann auch nicht sein. Ich kann das nicht beurteilen.»
    Es war kurz davor, hässlich zu werden, und da wollte ich nicht mitmachen – sitzen bleiben und mir das blöde Geschwätz über ihre zu kurz gekommene Möse anhören. Ich wusste zu wenig, um darüber mitzureden, und so sauer ich selbst auf den Meister war, ich brachte es nicht übers Herz, nun meinerseits über seine Männlichkeit herzuziehen. Ich hätte wohl aufstehen und mich verdrücken sollen, aber dann hätte sie zu schreien angefangen, und neun Minuten später hätten sämtliche Bullen von Wichita bei uns im Garten gestanden und uns wegen Ruhestörung eingebuchtet.
    Aber die Sorgen hätte ich mir sparen können. Bevor sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, drang plötzlich ein lautes Geräusch aus dem Haus. Eher ein Dröhnen als ein Krachen, so was wie eine langgezogene, dumpfe Explosion, unmittelbar gefolgt von mehreren Donnerschlägen, bum, bum, bum , als ob gleich die Wände einstürzen würden. Aus irgendeinem Grund fand Mrs. Witherspoon das komisch. Sie warf den Kopf zurück und bekam einen Lachkrampf, und in den nächsten fünfzehn Sekunden knatterte ihr die Luft aus den Bronchien wie ein Schwarm fliegender Heuschrecken. Hörte sich an wie eine der zehn Plagen, wie hundertprozentiger Gin, wie vierhundert Hyänen auf den Fluren einer Klapsmühle. Und dann, das Donnern hatte noch nicht aufgehört, blökte sie aus vollem Hals los. «Hörst du

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