Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
tief ein, nahm die Hände aus den Taschen und packte mich fest an der Schulter. «Was meinst du, kleiner Mann? Bist du bereit, den Leuten deine Nummer vorzuführen?»
    «Ich bin bereit, Chef. Da können Sie Gift drauf nehmen. Besorgen Sie mir eine Auftrittsmöglichkeit, und ich arbeite für Sie, bis dass der Tod uns scheidet.»

Meinen ersten öffentlichen Auftritt hatte ich am 25. August 1927 als Walt der Wunderknabe bei einer einmaligen Vorstellung auf dem Jahrmarkt von Pawnee County in Larned, Kansas. Ein bescheideneres Debüt lässt sich kaum denken, doch wie sich rausstellte, wäre es um ein Haar mein Schwanengesang geworden. Nicht dass ich meine Nummer verpatzt hätte, aber das Publikum war so ungehobelt und gemein, es waren so viele Betrunkene und Schreihälse darunter, dass ich, wenn dem Meister nicht rechtzeitig was eingefallen wäre, den Tag wohl nicht überlebt hätte.
    Hinter der Gartenbauausstellung, jenseits der Stände mit den preisgekrönten Getreideähren, der zweiköpfigen Kuh und dem Sechs-Zentner-Schwein, hatte man mit Seilen ein Gelände abgeteilt; wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, fuhren wir einen knappen Kilometer bis zu einem kleinen Teich mit schmutzig grünem Wasser und weißem Schaum obendrauf. Ein erbärmlicher Schauplatz für so ein historisches Ereignis, wie ich fand, aber der Meister wollte, dass ich klein anfing, mit so wenig Trara und Theater wie möglich. «Auch ein Ty Cobb hat mal in der Provinzliga gespielt», sagte er, als wir aus Mrs. Witherspoons Wagen stiegen. «Du musst erst Erfahrung sammeln. Bewähre dich hier, dann können wir uns in einigen Monaten überlegen, wie wir ganz groß einsteigen.»
    Leider gab es für die Zuschauer keine Tribüne, was müde Beine und mürrische Beschwerden zur Folge hatte, und bei einem Eintrittspreis von zehn Cent fühlten sich die Leute schon betrogen, noch ehe ich überhaupt auftrat. Es sind wohl nicht mehr als sechzig bis siebzig gewesen, ein Haufen stiernackiger Bauern in Arbeitshosen und Flanellhemden – Delegierte von der Ersten Internationale der Hinterwäldler. Die einen soffen selbstgebrannten Fusel aus kleinen braunen Hustensaftflaschen, die anderen hatten ihre Flaschen schon ausgetrunken und lechzten nach mehr. Als Meister Yehudi in schwarzem Smoking und Zylinder vor sie hin trat, um die Weltpremiere von Walt dem Wunderknaben anzukündigen, ging es mit den Beleidigungen und Zwischenrufen los. Vielleicht passte ihnen seine Kleidung nicht, vielleicht hatten sie was gegen seinen Brooklyn’schen Budapester Akzent, aber das meiste Unheil stiftete mit Sicherheit meine eigene Kostümierung, die schlimmste in den Annalen des Showbusiness: ein langes weißes Gewand, Ledersandalen, Hanfstrick um die Hüfte – ich sah aus wie Johannes der Täufer im Westentaschenformat. Der Meister hatte auf dieser, wie er es nannte, «unirdischen Aufmachung» bestanden, aber ich kam mir in den Sachen wie ein Trottel vor, und als dann irgendein Witzbold aus vollem Hals «Walt das Wundermädchen» brüllte, wurde mir klar, dass ich mit meiner Meinung nicht allein stand.
    Allein der Gedanke an Äsop gab mir schließlich den Mut anzufangen. Ich wusste, dass er mir von irgendwo da oben zuschaute, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Er glaubte an meinen Erfolg, und was immer dieser Haufen betrunkener Idioten von mir denken mochte, ich war es meinem Bruder schuldig, mir die größte Mühe zu geben. Also trat ich an den Teichrand, breitete die Arme aus, konzentrierte mich und versuchte die Buhrufe und Beleidigungen zu ignorieren. Als ich vom Boden abhob, hörte ich ein paar Ohs und Ahs – aber nur schwach, sehr schwach, denn ich befand mich schon in einer anderen Welt, von Freund und Feind geschieden durch das Hochgefühl meines Aufstiegs. Es war mein erster öffentlicher Auftritt, aber ich hatte die Routine eines alten Hasen, und ich bin sicher, ich hätte die Leute für mich gewonnen, wenn nicht irgendein Armleuchter auf die Idee gekommen wäre, eine Flasche nach mir zu werfen. In neunzehn von zwanzig Fällen fliegt so ein Geschoss vorbei, ohne Schaden anzurichten, aber das war wohl der Glückstag der Weitwerfer, und das verdammte Ding knallte mir voll an die Birne. Der Schlag riss mich aus der Konzentration (abgesehen davon, dass mir buchstäblich die Sinne schwanden), und ehe ich wusste, wo oben und unten war, sank ich wie ein Sack Kleingeld auf den Grund des Teichs. Wenn der Meister nicht auf dem Posten gewesen und mir ohne Rücksicht auf

Weitere Kostenlose Bücher