Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
das?», brüllte sie. «Hörst du das, Walt! Das bin ich! Dieser Lärm, das sind meine Gedanken, die Gedanken, die mir im Kopf rumspringen! Wie Popcorn, Walt! Mir platzt gleich der Schädel! Haha! Es zerfetzt mir die Birne!»
    In dem Augenblick trat an die Stelle der Donnerschläge das Geräusch von splitterndem Glas. Ein Gegenstand zerbrach, dann noch einer: Tassen, Spiegel, Flaschen, ein ohrenbetäubendes Geschepper. Es war schwer zu erkennen, was da im Einzelnen zu Bruch ging, aber jedes Ding zersprang mit einem anderen Geräusch – es dauerte ziemlich lange, über eine Minute, würde ich sagen, und nach den ersten Sekunden war der Lärm überall, das Geklirr hallte durch die ganze Nacht. Ohne lange nachzudenken, sprang ich auf und rannte zum Haus. Mrs. Witherspoon versuchte mir zu folgen, war aber zu betrunken. Ich erinnere mich bloß noch daran, dass ich zurückblickte und sie lang hinschlagen sah – voll aufs Gesicht, wie ein Säufer in den Comics. Sie stieß einen Schrei aus. Sah ein, dass jeder Versuch aufzustehen vergeblich war, und bekam den nächsten Lachkrampf. Und so ließ ich sie zurück: sich vor Lachen auf dem Boden kugelnd, den ganzen Rasen mit ihrem besoffenen Gekicher vollsabbernd.
    Ich konnte mir das Ganze nur so erklären, dass irgendwer ins Haus eingebrochen und über Meister Yehudi hergefallen war. Doch als ich durch die Hintertür kam und dann die Treppe hochlief, war alles wieder still. Das war schon seltsam genug, aber dann wurde es noch seltsamer. Ich ging durch den Flur zur Tür des Meisters, klopfte vorsichtig an und hörte ihn mit klarer, völlig normaler Stimme «Herein!», rufen. Also trat ich ein – und da stand Meister Yehudi in Bademantel und Pantoffeln mitten im Zimmer, die Hände in den Taschen und ein eigenartiges Lächeln auf dem Gesicht. Um ihn das reinste Chaos. Das Bett in ein Dutzend Stücke geschlagen, die Wände voller Löcher und Schrammen, ein Nebel von weißen Federn in der Luft. Zersplitterte Bilderrahmen, zerschmetterte Gläser, zertrümmerte Stühle, zerschlagene Bruchstücke x-beliebiger Gegenstände – der ganze Boden war voll damit. Er ließ mir ein paar Sekunden Zeit, den Eindruck zu verarbeiten, und dann sprach er mich mit der Gemütsruhe eines Mannes an, der grade einem warmen Bad entstiegen ist: «Guten Abend, Walt», sagte er. «Was führt dich zu dieser späten Stunde zu mir?»
    «Meister Yehudi», sagte ich. «Fehlt Ihnen was?»
    «Fehlen? Aber nein. Oder seh ich so aus?»
    «Weiß nicht. Eigentlich nicht. Aber das hier», sagte ich und zeigte auf die Trümmer zu meinen Füßen, «was soll das? Versteh ich nicht. Ist ja alles kaputt, alles kurz und klein geschlagen.»
    «Eine Übung in Katharsis, Kleiner.»
    «Übung in was?»
    «Vergiss es. So eine Art Medizin fürs Herz, Balsam für kränkelnde Seelen.»
    «Soll das heißen, Sie haben das alles selbst getan?»
    «Es musste sein. Tut mir leid, wenn’s etwas laut gewesen ist, aber früher oder später musste es sein.»
    Aus seinem Blick glaubte ich schließen zu können, dass er wieder ganz der Alte war. Seine Stimme hatte den arroganten Tonfall wiedergefunden, und mit altvertrauter Tücke ließ er Sarkasmus in seine Freundlichkeit einfließen. «Heißt das», fragte ich, dem Frieden noch nicht trauend, «heißt das, dass es von jetzt an besser werden wird?»
    «Wir haben die Pflicht, uns der Toten zu erinnern. Das ist das oberste Gebot. Wenn wir dagegen verstoßen, haben wir nicht mehr das Recht, uns Menschen zu nennen. Kannst du mir folgen, Walt?»
    «Ja, Meister, kann ich. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht an unsere Lieben denke und an das, was man ihnen angetan hat. Bloß …»
    «Bloß was, Walt?»
    «Bloß dass uns die Zeit davonläuft und dass wir der Welt ein Unrecht zufügen, wenn wir nicht auch an uns selbst denken.»
    «Du bist ein aufgeweckter Junge. Vielleicht wird doch mal was aus dir.»
    «Es geht doch nicht bloß um mich. Mrs. Witherspoon ist auch noch da. In den letzten Wochen ist sie ganz schön auf dem Zahnfleisch gegangen. Wenn mich meine Augen grade nicht getäuscht haben, liegt sie jetzt ohnmächtig draußen auf dem Rasen und schnarcht in ihrer eigenen Kotze vor sich hin.»
    «Ich gedenke nicht, mich für etwas zu rechtfertigen, was keiner Rechtfertigung bedarf. Ich habe getan, was ich musste, und es hat eben nun einmal so lange gedauert. Jetzt fängt ein neues Kapitel an. Die Dämonen haben sich verzogen, die finstere Nacht der Seele ist vorüber.» Er atmete

Weitere Kostenlose Bücher