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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Minneapolis oder Saint Paul. Dort war ich bloß einen Tag, und von da aus fuhren wir wieder aufs Land, zu einem verlassenen Goldsucherhaus in South Dakota, wie ich später herausfand. Da draußen war die reinste Mondlandschaft, keine Bäume, alles still und öde, und wir waren so weit weg von jeder Straße, dass ich, selbst wenn mir die Flucht gelungen wäre, Stunden gebraucht hätte, um Hilfe zu finden. Sie hatten einen Konservenvorrat für zwei Monate angelegt, und alles wies auf eine lange, nervenaufreibende Zerreißprobe hin. Slim hatte beschlossen, die Sache so langsam wie möglich abzuwickeln. Der Meister sollte vor ihm zu Kreuze kriechen, und wenn sich das Ganze dadurch ein bisschen in die Länge zog, um so besser. Er hatte es nicht eilig. Er genoss es in vollen Zügen – warum also aufhören, bevor er den Spaß ausgekostet hatte?
    So großspurig, so beflügelt und selbstzufrieden hatte ich ihn noch nie erlebt. Er stolzierte in dieser Hütte rum wie ein Vier-Sterne-General, kläffte Befehle, lachte über seine eigenen Witze und tat großkotzig wie ein Irrer. Sein Auftreten widerte mich an, ersparte mir aber gleichzeitig die volle Wucht seiner Grausamkeit. Da alles so prima für ihn lief, konnte Slim es sich leisten, großzügig zu sein, das heißt, er sprang nie so brutal mit mir um, wie ich erwartet hatte. Natürlich setzte er gelegentlich die Fäuste ein, schlug mich auf den Mund oder zog mir die Ohren lang, wenn ihm grade danach war, aber meist quälte er mich bloß mit Spott und spitzen Bemerkungen. Er wurde nie müde, mir zu erzählen, wie er es «diesem lausigen Juden heimgezahlt» habe, oder sich über die auf meinem Gesicht sprießenden Pickel lustig zu machen («Junge, schon wieder ’ne Eiterbeule»; «Pfui Spinne, die ganze Stirn voller Hühneraugen»), oder mich daran zu erinnern, dass er jetzt mein Schicksal in der Hand hielt. Um letzterem Nachdruck zu verleihen, baute er sich manchmal vor mir auf, ließ eine Pistole um den Finger kreisen und drückte mir die Mündung an den Schädel. «Kapierst du, Knilch?», sagte er dann und lachte laut auf. «Ein leichter Druck auf den Auslöser, und dein Hirn spritzt an die Wand.» Ein paarmal drückte er tatsächlich ab, aber nur, um mir Angst einzujagen. Ich wusste, solange er nicht das Lösegeld eingesackt hätte, würde er es nicht riskieren, die Pistole mit scharfer Munition zu laden.
    Es war kein Honiglecken, aber ich kam damit zurecht. Worte sind leichter zu ertragen als Schläge, heißt es, und ich fand es jedenfalls bedeutend angenehmer, mir sein Gequassel anzuhören, als mich von ihm verprügeln zu lassen. Solange ich den Mund hielt und ihn nicht provozierte, ging ihm meist schon nach einer Viertelstunde die Puste aus. Und da sie mir fast nie den Knebel abnahmen, blieb mir sowieso kaum was anderes übrig. Aber selbst wenn ich die Lippen frei hatte, tat ich mein Möglichstes, seine Sticheleien zu ignorieren. Mir fielen haufenweise saftige Erwiderungen und Beleidigungen ein, aber im Bewusstsein, dass das Schwein mir um so weniger anhaben konnte, je weniger ich auf sein Gezänk einging, behielt ich sie meistens für mich. Davon abgesehen hatte ich wenig, woran ich mich festhalten konnte. Slim war zu verrückt, ihm war nicht zu trauen, und nichts garantierte mir, dass er mich nach Empfang des Lösegeldes nicht umbringen würde. Ich konnte nicht wissen, was er vorhatte, und diese Ungewissheit quälte mich am meisten. Die Strapazen der Gefangenschaft konnte ich ertragen, aber ständig drängten sich mir Bilder auf, was danach kommen würde: wie mir die Kehle durchgeschnitten wurde, wie mir eine Kugel ins Herz gejagt wurde, wie mir die Haut von den Knochen gezogen wurde.
    Fritz trug nichts zur Linderung dieser Qualen bei. Er war kaum mehr als ein Jasager, ein trottliger Fettsack, der schnaufend und schleppend die kleineren Aufgaben erledigte, die Slim ihm auftrug. Er kochte die Bohnen auf dem Holzofen, er fegte den Boden, er leerte die Scheißeimer, er kontrollierte die Fesseln um meine Arme und Beine. Weiß der Himmel, wo Slim diesen trägen Ochsen aufgegabelt hatte, jedenfalls hätte er sich einen gehorsameren Handlanger kaum wünschen können. Fritz war Zimmermädchen, Butler und Laufbursche, ein kräftiger Schwachkopf, dem nie eine Klage über die Lippen kam. Er schickte sich in diese langen Tage und Nächte, als seien die Badlands die schönste Feriengegend von Amerika; solange er nur warten und nichts tun musste, solange er aus dem Fenster sehen

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