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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mit Blei vollpumpten und mich ins Land der Lebenden zurückbrachten. Aber die Wochen gingen dahin, und nichts tat sich. Und als sich dann was tat, wurde es nur noch schlimmer. Nachdem die Verhandlungen wegen des Lösegeldes einmal angefangen hatten, glaubte ich bei Slim eine gewisse Verhärtung der Stimmung zu bemerken, ein langsames Abbröckeln seiner Zuversicht. Aus dem Spiel war Ernst geworden. Die anfängliche Begeisterung hatte sich gelegt, und seine Ausgelassenheit wich allmählich wieder der alten übellaunigen Reizbarkeit. Er nörgelte an Fritz herum, er schimpfte über das schlechte Essen, er schmiss Teller an die Wand. Und das waren nur die ersten Anzeichen, denen bald noch ganz andere folgten: Er trat mich vom Stuhl, machte hämische Bemerkungen über Fritz’ dicken Wanst, zog mir die Fesseln strammer. Offenbar machte ihn die Situation sehr nervös, aber woran genau das lag, konnte ich nicht wissen. Ich war nicht beteiligt an den Gesprächen im Nebenzimmer, bekam weder die Lösegeldbriefe noch die Zeitungsartikel über mich zu sehen, und das wenige, was ich durch die Tür mitbekam, war so gedämpft und bruchstückhaft, dass ich mir keinen Reim darauf machen konnte. Ich merkte nur, dass Slim nach und nach in seine alten Gewohnheiten zurückfiel. Das war nicht zu übersehen, und ich wusste, wenn er erst mal wieder ganz der Alte war, würde mir alles, was sich bis dahin abgespielt hatte, wie der reinste Urlaub vorkommen, wie eine Kreuzfahrt zu den Kleinen Antillen auf einer gottverdammten Luxusyacht.
    Anfang Juni war er kurz vorm Durchdrehen. Sogar Fritz, der stets gelassene und unerschütterliche Fritz, zeigte allmählich Verschleißerscheinungen, und es war dem Einfaltspinsel an den Augen abzulesen, dass er Slims Sticheleien nicht mehr lange hinnehmen würde. Darauf gründeten sich meine inbrünstigsten Hoffnungen – dass die beiden sich gegenseitig totschlügen –, aber auch wenn es dazu nicht kam, tröstete es mich ungemein, dass ihre Gespräche immer öfter in Zankereien ausarteten, die hauptsächlich so abliefen, dass Slim sich über Fritz lustig machte, während der mit gesenktem Blick in der Ecke schmollte und leise vor sich hin fluchte. Das verschaffte mir immerhin ein bisschen Erleichterung, und bei all den drohenden Gefahren war es geradezu ein Segen, eine unvorstellbare Wohltat, für fünf oder zehn Minuten in Vergessenheit zu geraten.
    Draußen wurde es ständig wärmer, die Hitze machte mir immer mehr zu schaffen. Die Sonne schien gar nicht mehr unterzugehen, und die Fesseln juckten wie verrückt. Mit dem Sommer waren auch die Spinnen gekommen, das Hinterzimmer, in dem ich die meiste Zeit verbrachte, wimmelte von ihnen. Sie krabbelten mir an den Beinen rauf und runter, liefen mir übers Gesicht und brüteten ihre Eier in meinen Haaren aus. Kaum hatte ich eine abgeschüttelt, kam schon die nächste angerannt. Moskitos brummten mir im Sturzflug in die Ohren, Fliegen zappelten surrend in sechzehn verschiedenen Netzen, unablässig strömte mir der Schweiß. Wenn mich das Krabbelzeug nicht fertigmachte, dann mein trockener Hals. Und wenn nicht der Durst, dann meine Trauer, dieser unaufhaltsame Verfall meiner Willenskraft und Entschlossenheit. Ich zerlief zu einem Brei, zu einem schlabbrigen Häufchen Elend, das in einem Topf voll Spucke zerkochte, und sosehr ich mich bemühte, stark und tapfer zu sein, es gab immer wieder Augenblicke, wo ich nicht mehr konnte und mir die Tränen aus den Augen rannen.
    Eines Nachmittags platzte Slim in mein kleines Versteck und erwischte mich mitten in einem dieser Weinkrämpfe. «Warum so niedergeschlagen, Bürschchen?», sagte er. «Weißt du nicht, dass du morgen deinen großen Auftritt hast?»
    Es demütigte mich, dass er mich so sah, und so wandte ich den Kopf ab und schwieg. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, und da ich nur mit den Augen sprechen konnte, hatte ich keine Möglichkeit, es herauszufinden. Inzwischen spielte es sowieso keine Rolle mehr.
    «Zahltag, Genosse. Morgen kriegen wir die Kohle, einen richtigen dicken Packen. Fünfzigtausend Eierchen, hübsch verpackt in einem alten Strohkoffer. Genau wie der Onkel Doktor es verschrieben hat, was? Ein verdammt gutes Polster für den Ruhestand, sag ich dir, und was das Schönste ist: Die Scheinchen sind nicht markiert, ich kann sie von hier bis nach Mexiko ausgeben, ohne dass mir die Bullen auf die Schliche kommen.»
    Ich hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Er sprach so schnell, er

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