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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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wenn er dich noch einmal anfasst, Walt, bring ich ihn um. Mein Wort drauf. Ich hacke den Schuft in so viele Stücke, dass man noch zwanzig Jahre später in Kanada welche davon finden wird.»
    Ich war stolz darauf, wie sich der Meister in dem Restaurant durchgesetzt hatte, machte mir aber trotzdem Sorgen. Der ältere Bruder meiner Mutter war ein gerissener Bursche, und wenn er sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, würde er nicht so bald davon ablassen. Mir selbst lag nichts daran, die Sache von seinem Standpunkt aus zu betrachten. Vielleicht hatte ihm der Meister fünfundzwanzig Prozent versprochen, vielleicht auch nicht, aber das war jetzt alles Schnee von gestern, und ich wollte nur eins, nämlich diesen Schweinehund nie wiedersehen. Er hatte mich so oft fertiggemacht, dass ich nur noch Hass für ihn empfand, und ob er einen rechtmäßigen Anspruch auf das Geld hatte oder nicht, war mir völlig schnuppe, verdient hatte er jedenfalls keinen Cent. Nur hatte es leider gar nichts zu sagen, was ich dachte. Oder was der Meister dachte. Es hing alles von Slim ab, und ich spürte es in den Knochen, er würde uns nachjagen, er würde nicht lockerlassen, bis er mir die Hände um den Hals schrauben konnte.
    Diese Ängste und Ahnungen verließen mich nicht. Sie warfen einen Schatten über alles, was in den folgenden Tagen und Monaten passierte, und beeinträchtigten meine Stimmung so sehr, dass sie sogar die Freude über meinen wachsenden Erfolg trübten. Besonders schlimm war es am Anfang. Wo wir auch hinfuhren, wo wir auch auftraten, ständig rechnete ich damit, Slim wiederzusehen. Ob wir in einem Restaurant saßen, ein Hotel betraten oder aus dem Auto stiegen: Mein Onkel konnte jederzeit und ohne Vorwarnung auftauchen und das Gewebe meines Lebens zerreißen. Was die Situation so schwer erträglich machte, war diese Unsicherheit, der Gedanke, dass mein ganzes Glück an einem seidenen Faden hing. Sicher fühlte ich mich bloß noch, wenn ich vor dem Publikum stand und meine Vorstellung gab. In der Öffentlichkeit würde Slim es nicht wagen, was zu unternehmen, jedenfalls nicht, wenn ich so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand; und angesichts der Sorgen, die ich die ganze übrige Zeit mit mir herumtrug, wurden die Auftritte für mich zu einer Art geistiger Erholung, zu Ruhepausen in der Panik, die mich sonst kaum noch losließ. Ich stürzte mich in die Arbeit wie nie zuvor, schwelgte in der Freiheit und Sicherheit, die sie mir gewährte. In meiner Seele hatte sich was verändert, ich begriff, dass ich jetzt ein anderer war: nicht mehr Walter Rawley, der Junge, der sich für eine Stunde am Tag in Walt den Wunderknaben verwandelte, sondern Walt der Wunderknabe durch und durch, ein Mensch, der nur existierte, wenn er in der Luft schwebte. Der Erdboden war eine Illusion, ein Niemandsland voller Fallen und Schatten, und alles, was sich da unten abspielte, war unecht. Nur die Luft war real, und dreiundzwanzig Stunden am Tag war ich mir selbst ein Fremder, abgeschnitten von meinen alten Freuden und Gewohnheiten, ein furchtsames Bündel voller Verzweiflung und Angst.
    Die Arbeit hielt mich aufrecht, und zum Glück gab es viel zu tun, der ganze Winter war ausgebucht. Nach unserer Rückkehr nach Wichita stellte der Meister einen komplizierten Tourneeplan mit einer Rekordzahl von wöchentlichen Vorstellungen zusammen. Der beste seiner vielen klugen Schachzüge war der, uns in der Zeit der schlimmsten Winterkälte nach Florida zu bringen. Von Mitte Januar bis Ende März bereisten wir die Halbinsel von oben bis unten, übrigens das erste und einzige Mal, dass Mrs. Witherspoon uns auf einer längeren Tournee begleitete. Im Gegensatz zu all dem dummen Gerede, sie bringe nur Pech, hat sie mir nichts als Glück gebracht. Glück nicht nur, was Slim betraf (den wir nicht mal von weitem zu sehen bekamen), sondern auch in puncto Zuschauerzahlen, Einnahmen und Unterhaltung (sie ging genauso gern ins Kino wie ich).
    Florida erlebte damals gerade seinen Aufschwung, scharenweise kamen die reichen Leute in ihren weißen Anzügen und Diamanthalsketten dorthin, um sich unter Palmen den Winter zu vertreiben. Zum ersten Mal hatte ich feine Herrschaften als Publikum. Ich gastierte in Country Clubs, auf Golfplätzen und Ferienranches, und bei aller Eleganz und Kultiviertheit reagierten diese Aristokraten mit derselben Begeisterung auf meine Darbietung wie anderswo die armen Schlucker. Es spielte keine Rolle. Meine Nummer kam überall an, sie verblüffte

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