Mr. Vertigo
und atmen konnte, war er vollkommen zufrieden. Zehn, zwölf Tage lang sagte er so gut wie nichts zu mir, aber als dann die erste Lösegeldforderung an Meister Yehudi abgeschickt war und Slim jeden Morgen in die Stadt fuhr, wohl um per Post, Telephon oder sonst wie seine Forderungen zu übermitteln, mussten Fritz und ich täglich ein paar Stunden allein miteinander verbringen. Ich will nicht so weit gehen und behaupten, wir hätten so was wie Eintracht entwickelt, aber wenigstens jagte er mir nicht solche Angst ein wie Slim. Fritz hatte nichts gegen mich persönlich. Er machte nur seine Arbeit, und mir wurde bald klar, dass die Zukunft für ihn genauso im Dunkeln lag wie für mich selbst.
«Er wird mich umbringen müssen, oder?», sagte ich einmal mittags zu ihm, als er mich wie üblich mit gebackenen Bohnen und Kräckern fütterte. Die Vorstellung, dass ich einfach wegfliegen könnte, schüchterte Slim so ein, dass er mir nie die Fesseln abnahm, nicht mal zum Essen, Schlafen oder Scheißen. Also fütterte Fritz mich mit dem Löffel, schob mir den Fraß in den Mund wie einem Säugling.
«Hä?», gab Fritz auf seine aufgeweckte, ungemein schlagfertige Art zurück. Er sah mich verständnislos an, als ob sein Hirn irgendwo zwischen Pittsburgh und den Allegheny Mountains in einen Stau geraten wäre. «Hast du was gesagt?»
«Er wird mich kaltmachen, stimmt’s?», wiederholte ich. «Ich meine, ich hab nicht die kleinste Chance, hier noch mal lebendig rauszukommen.»
«Weiß ich nix von, Junge. Dein Onkel erzählt mir ja nicht, was er vorhat. Der macht das alles allein.»
«Und es stört Sie nicht, dass er Sie nicht einweiht?»
«Nö, stört mich nicht. Solang ich meinen Anteil kriege, ist mir alles egal. Was er mit dir anstellt, geht mich nix an.»
«Und was macht Sie so sicher, dass er Ihnen den Anteil auszahlen wird?»
«Gar nix. Aber wenn er mich reinlegen will, reiß ich ihm den Arsch auf.»
«Das kann niemals gutgehen, Fritz. Diese ganzen Briefe, die Slim bei der Post aufgibt – damit wird man euch im Handumdrehn hier in dieser Hütte aufspüren.»
«Ha, sehr witzig. Meinst du, wir sind blöd?»
«Ja, allerdings. Ziemlich blöd.»
«Ha. Und wenn ich dir sage, dass wir noch ’nen Partner haben? Und dass dieser Partner zufällig der Empfänger dieser Briefe ist?»
«Na, was dann?»
«Sag ich doch. Kapierst du nicht, Junge? Dieser andere schickt die Briefe an die Leute mit der Kohle weiter. Also kann man uns unmöglich hier aufspüren.»
«Und was ist mit diesem Komplizen? Ist der vielleicht unsichtbar oder was?»
«Ja, genau. Der hat so ein Zauberpulver genommen und sich in Luft aufgelöst.»
Das war so ziemlich das längste Gespräch, das ich je mit ihm hatte: Fritz als großer Redner und Schwätzer. Nicht dass er gemein zu mir war, aber er hatte Eis in den Adern und Popcorn im Schädel, und ich bin nie zu ihm durchgedrungen. Ich konnte ihn nicht gegen Onkel Slim aufhetzen, ich konnte ihn nicht überreden, mir die Fesseln abzunehmen («Tut mir leid, Junge, nix zu machen»), ich konnte seine Loyalität und Standhaftigkeit kein bisschen ins Wanken bringen. Jeder andere hätte eine von zwei Antworten auf meine Frage gehabt: Er hätte es entweder bestätigt oder abgestritten. Ja, hätte er gesagt, Slim wird dir die Kehle durchschneiden; oder er hätte mir den Kopf getätschelt und meine Befürchtungen als unbegründet abgewiesen. Selbst wenn er dabei gelogen hätte (aus allen möglichen Gründen, guten und schlechten), hätte ich immerhin eine Antwort erhalten. Nicht so Fritz. Fritz trieb es mit der Ehrlichkeit zu weit, und da er meine Frage nicht beantworten konnte, sagte er eben, er wisse es nicht, und vergaß dabei, dass der normale menschliche Anstand auf eine so gewaltige Frage wie diese eine entschiedene Antwort verlangt. Aber Fritz hatte die Regeln menschlichen Verhaltens nie gelernt. Er war eine Null und ein Trottel, und jeder Pickelhering konnte sehen, dass es reine Luftverschwendung war, mit ihm zu reden.
Ah, das war schon eine tolle Zeit da in South Dakota, ein regelrechter Lachathon, Spaß und Unterhaltung rund um die Uhr. Über einen Monat gefesselt und geknebelt, in einem verschlossenen Zimmer mit zwölf rostigen Schaufeln und Mistgabeln zur Gesellschaft alleingelassen, einen grausamen, unentrinnbaren Tod vor Augen. Meine einzige Hoffnung war die, dass mich der Meister befreien würde, und immer wieder träumte ich, wie er und eine Schar Männer über die Hütte herfielen, Fritz und Slim
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