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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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jeden, ob reich oder arm, auf die gleiche Weise.
    Als wir nach Kansas zurückkamen, fühlte ich mich langsam ein bisschen besser. Slim hatte sich fünf Monate lang nicht blicken lassen, und wenn er irgendwelche Überraschungen plante, wäre er längst damit herausgerückt, meinte ich. Als wir Ende April in den Mittleren Westen aufbrachen, hatte ich ihn praktisch vergessen. Die unheimliche Szene in Gibson City lag so weit zurück, dass sie mir fast schon unwirklich vorkam. Ich war entspannt und zuversichtlich, und wenn ich überhaupt noch was anderes als meine Kunst im Kopf hatte, dann allenfalls die Haare, die mir in den Achselhöhlen und in der Leistengegend zu wachsen anfingen – also das ganze Zeug, das meinen Eintritt in die Welt der feuchten Träume und schmutzigen Gedanken ankündigte. Ich war nicht auf der Hut, und wie ich es immer gewusst hatte, wie ich es von Anfang an befürchtet hatte, sauste die Klinge genau in dem Augenblick herunter, als ich am wenigsten damit rechnete. Der Meister und ich waren in Northfield, Minnesota, einer kleinen Ortschaft ungefähr sechzig Kilometer südlich von Saint Paul, und wie üblich ging ich, um mir ein paar Stunden zu vertreiben, vor der Abendvorstellung erst mal ins Kino. Inzwischen waren die Tonfilme groß in Mode; ich konnte gar nicht genug davon bekommen und nutzte jede Gelegenheit, sodass ich manche Filme drei- oder viermal sah. An diesem Tag lief im Hauptprogramm Cocoanuts , der neue, in Florida spielende Film der Marx Brothers. Ich hatte ihn schon mal gesehen, war aber ganz verrückt nach diesen Clowns, besonders nach Harpo, dem Stummen mit der irren Perücke und der lauten Hupe, und rannte sofort los, als ich hörte, dass er an dem Nachmittag gezeigt wurde. Das Kino war ziemlich groß und bot Platz für zwei- bis dreihundert Zuschauer, doch bei dem schönen Frühlingswetter waren außer mir höchstens noch ein halbes Dutzend andere gekommen. Nicht dass mich das gestört hätte. Ich setzte mich mit einer Tüte Popcorn hin, lachte mich krumm und schief und hatte die anderen Leute in dem dunklen Saal völlig vergessen. Ungefähr nach einer halben Stunde wehte mir ein seltsamer Geruch in die Nase, ein merkwürdig süßer, medizinischer Gestank, der von irgendwo hinter mir kam. Es roch ziemlich streng und wurde mit jeder Sekunde strenger. Noch bevor ich mich umdrehen und herausfinden konnte, was es war, wurde mir ein Lappen mit diesem beißenden Zeug übers Gesicht gedrückt. Ich bäumte mich auf und versuchte mich loszureißen, aber eine Hand stieß mich zurück, und ehe ich meine Kräfte für einen zweiten Anlauf sammeln konnte, sackte ich plötzlich zusammen. Meine Muskeln wurden schlaff; meine Haut schmolz zu einer klebrigen Masse; mein Kopf löste sich vom Körper. Wo immer ich jetzt sein mochte, ich war noch nie dort gewesen.

Ich hatte mir alle möglichen Kämpfe und Konfrontationen mit Slim ausgemalt – Schlägereien, Überfälle, Schüsse in finsteren Gassen –, aber dass er mich entführen könnte, war mir nie in den Sinn gekommen. Mein Onkel war nicht der Typ, der was unternahm, das so langwierige Vorbereitungen erforderte. Er war ein Hitzkopf, ein Heißsporn, der immer nur spontanen Eingebungen folgte, und wenn er meinetwegen von diesem Schema abwich, beweist das nur, wie verbittert er war, wie sehr ihn mein Erfolg gewurmt hatte. Er sah in mir die einzige große Chance, die er je haben würde, und die wollte er sich nicht durch seinen Jähzorn vermasseln lassen. Diesmal nicht. Er würde handeln wie ein echter Gangster, wie ein raffinierter Profi, der jedes Detail berücksichtigt, und er würde uns die Daumenschrauben anlegen, aber richtig. Es ging ihm dabei nicht bloß um Geld, und es ging ihm auch nicht bloß um Rache – er wollte beides, und die ideale Lösung war eben die, dass er mich als Geisel nahm, um Lösegeld zu erpressen, und so beide Fliegen mit einer Klappe schlug.
    Diesmal hatte er einen Partner, einen feisten Schurken namens Fritz, und wenn man bedenkt, was für geistige Leichtgewichte die beiden waren, war es schon ziemlich meisterhaft, wie sie mich versteckt gehalten haben. Zunächst verfrachteten sie mich in eine Höhle außerhalb von Northfield, ein feuchtes, schmutziges Loch, in dem ich, die Beine mit dicken Seilen gefesselt und einen Knebel im Mund, drei Tage und Nächte zubringen musste; dann verpassten sie mir eine zweite Ladung Äther und brachten mich an einen anderen Ort, vermutlich in den Keller eines Wohnhauses in

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