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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Metropolen, von denen ich immer geträumt hatte. Providence und Newark; New Haven und Baltimore; Philadelphia, Boston, New York. Meine Auftritte wurden in Säle verlagert, von jetzt an sollte es ums Ganze gehen. «Schluss mit dem Wandeln übers Wasser», sagte der Meister, «Schluss mit dem Farmerjungenkostüm, Schluss mit den Jahrmärkten und Handelskammerpicknicks. Du bist jetzt ein Künstler der Lüfte, Walt, der einzige deiner Art, und die Leute werden dickes Geld bezahlen für das Privileg, dich auftreten zu sehen. Sie werden ihren Sonntagsstaat anlegen und in Plüschsesseln sitzen, und wenn es im Theater dunkel wird und du ins Rampenlicht trittst, werden ihnen die Augen aus dem Kopf fallen. Sie werden tausend Tode sterben, Walt. Du wirst vor ihnen tanzen und kreisen, und einer nach dem anderen werden sie dir über die Leiter in den Himmel folgen. Und wenn es vorbei ist, werden sie im Angesicht Gottes sitzen.»
    So kann sich das Glück wenden. Die Entführung war das Schlimmste, was mir je zugestoßen war, und trotzdem erwies sie sich als mein großer Durchbruch, als der Treibstoff, der mich endlich auf die Umlaufbahn brachte. Ich hatte einen Monat lang Gratisreklame bekommen, und als ich dann Slim durch die Lappen ging, war mein Name in aller Munde, war ich der berühmteste Mensch im ganzen Land. Die Nachricht von meiner Flucht sorgte für enormes Aufsehen, ließ der ersten Sensation eine zweite folgen, und danach konnte ich nichts mehr falsch machen. Ich war nicht nur ein Opfer, ich war ein Held, ein Tausendsassa voller Mut und Verwegenheit, drum wurde ich nicht nur bemitleidet, sondern auch geliebt. Wie soll man daraus schlau werden? Man hatte mich durch die Hölle gehen lassen. Man hatte mich gefesselt und geknebelt. Man hatte mich aufgegeben, und einen Monat später war ich jedermanns Liebling. Da konnte einem schon schwindlig werden, da konnte man nur noch mit den Ohren schlackern. Amerika lag mir zu Füßen, und wenn ein Mann wie Meister Yehudi die Fäden zog, musste es eine ganze Weile dort liegen bleiben.
    Onkel Slim hatte ich zwar ausgetrickst, aber das änderte nichts dran, dass er immer noch frei herumlief. Die Polizei stürmte die Hütte in South Dakota, doch abgesehen von jeder Menge Fingerabdrücke und einem Haufen schmutziger Wäsche fand sie von den Tätern keine Spur. Ich hätte wohl Angst haben und mich auf weiteren Ärger gefasst machen sollen, aber seltsamerweise verschwendete ich mit so was gar keine Zeit. Dafür ging es auf Cape Cod viel zu friedlich zu, und jetzt, wo ich meinen Onkel einmal geschlagen hatte, war ich überzeugt, es auch ein zweites Mal schaffen zu können – wobei ich rasch vergaß, wie knapp ich ihm entkommen war. Aber Meister Yehudi hatte versprochen, mich zu beschützen, und ich glaubte ihm. Nie mehr würde ich allein in irgendwelche Kinos gehen, und solange er mich überallhin begleitete, was konnte mir schon passieren? Mit der Zeit dachte ich immer weniger an die Entführung. Und wenn doch, dann blickte ich hauptsächlich auf meine Flucht zurück und fragte mich, wie schwer ich Slim mit dem Auto verletzt hatte. Ich hoffte, der Kotflügel hatte ihn an der Kniescheibe erwischt, sie vielleicht sogar zertrümmert. Er sollte einen bleibenden Schaden davongetragen haben und sich den Rest seiner Tage humpelnd durchs Leben schleppen.
    Aber ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um allzu oft an die Vergangenheit zu denken. Die Tage waren ausgefüllt mit Vorbereitungen und Proben für meine neue Show, und auch abends hatte ich kaum eine ruhige Minute, wenn man bedenkt, wie sehr es meinen Adam nach Amüsement und Ablenkung verlangte. Zwischen diesen nächtlichen Eskapaden und dem Stress am Nachmittag blieb für Angst oder Missmut nicht der geringste Platz. Slim machte mir keine Kopfschmerzen, so wenig wie Mrs. Witherspoons bevorstehende Hochzeit. Meine Gedanken kreisten um ein dringenderes Problem, und damit hatte ich alle Hände voll zu tun: Wie machte man aus Walt dem Wunderknaben einen Bühnenkünstler, ein Wesen, das sich durch den begrenzten Raum eines Theaters nicht einschränken ließ?
    Meister Yehudi und ich führten zwar ein paar ellenlange Gespräche über dieses Thema, aber meistens arbeiteten wir die neuen Nummern einfach durch Herumprobieren aus. Stunde für Stunde, Tag für Tag verbrachten wir, umkreist von kreischenden Möwenschwärmen, auf dem windigen Strand und änderten und korrigierten so lange am Programm herum, bis es saß. Es durfte keine

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