Mr. Vertigo
keine Macke, keine Schramme. Sie bescheinigten mir völlige Gesundheit und erklärten mich zum fittesten Vierzehnjährigen, der ihnen je untergekommen sei. Was die Kopfschmerzen und Schwindelgefühle betraf, konnten sie die genaue Ursache nicht ermitteln. Vielleicht war es ein Virus, den ich inzwischen längst überwunden hatte. Vielleicht hatte ich irgendwas Schlechtes gegessen. Was auch immer, es war nicht mehr da, und wenn es zufällig doch noch da war, war es so klein, dass nicht mal das stärkste Mikroskop des Planeten es entdecken konnte.
«Halleluja», sagte ich, als mir der Meister die Nachricht überbrachte. «Hurra und Halleluja.»
Wir waren allein in meinem Zimmer im dritten Stock und saßen nebeneinander auf der Bettkante. Es war frühmorgens, die Sonne schien durch die Jalousie zu uns hinein. Drei, vier Sekunden lang war ich so glücklich wie noch nie in meinem ganzen Leben. So glücklich, dass ich am liebsten geschrien hätte.
«Nicht so schnell, Kleiner», sagte der Meister. «Ich bin noch nicht fertig.»
«Schnell? Schnelligkeit ist alles, Meister. Je schneller, desto besser. Wir haben schon acht Vorstellungen verpasst, und je früher wir einpacken und von hier verschwinden, desto früher sind wir wieder unterwegs. Welche Stadt ist als Nächstes dran? Wenn es nicht zu weit ist, schaffen wir’s vielleicht noch, bevor der Vorhang aufgeht.»
Der Meister nahm meine Hand und drückte sie. «Beruhige dich, Walt. Hol tief Luft, schließ die Augen und hör zu, was ich dir zu sagen habe.»
Das hörte sich nicht nach einem Witz an, also gehorchte ich und versuchte stillzusitzen.
«Gut.» Er sagte dieses eine Wort und unterbrach sich. Es dauerte lange, bis er weiterredete, und während dieses düsteren Schweigens ging mir auf, dass was Furchtbares geschehen würde. «Es wird keine Show mehr geben», sagte er schließlich. «Wir sind erledigt, Junge. Walt der Wunderknabe ist hinüber.»
«Lassen Sie die Scherze, Meister», sagte ich, machte die Augen auf und sah in sein bedrücktes, entschlossenes Gesicht. Ich wartete noch immer darauf, dass er mir zublinzelte und loswieherte, aber er saß bloß da und starrte mich mit seinen dunklen Augen an. Wenn das überhaupt ging, wurde seine Miene nur noch trauriger.
«In solch einem Augenblick würde ich keine Scherze machen», sagte er. «Wir sind am Ende der Fahnenstange, da ist nichts zu machen, rein gar nichts.»
«Aber die Ärzte haben mich doch für gesund erklärt. Ich bin eine Pferdenatur.»
«Das ist es ja eben. Dir fehlt nichts – und das heißt, dass es nichts zu heilen gibt. Weder durch Ruhe noch durch Medikamente, noch durch irgendwelche Übungen. Du bist vollkommen gesund, und weil du gesund bist, ist es mit deiner Karriere aus.»
«So was Hirnverbranntes, Meister. Das stimmt doch hinten und vorne nicht.»
«Fälle wie deiner sind mir nicht neu. Sie kommen sehr selten vor. In der Literatur werden nur zwei erwähnt, und die liegen Hunderte von Jahren auseinander. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es einen tschechischen Levitator, der dasselbe hatte, und davor gab es noch Antoine Dubois, einen Franzosen, der zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten gewirkt hat. Das sind die beiden einzigen belegten Fälle. Du bist der dritte, Walt. Du bist in den Annalen der Levitation erst der dritte, der mit diesem Problem konfrontiert wird.»
«Ich weiß immer noch nicht, wovon Sie reden.»
«Walt, ich rede von der Pubertät. Vom Erwachsenwerden. Von den körperlichen Veränderungen, die einen Jungen zum Mann machen.»
«Meinen Sie die ständigen Steifen? Den Lockenbusch, den Stimmbruch?»
«Genau das. All die natürlichen Veränderungen.»
«Vielleicht hab ich einfach zu viel gewichst. Wenn ich nun mit diesem Unsinn aufhöre? Sie wissen schon, ein bisschen sparsamer mit dem Bindu umgehen. Glauben Sie, das würde was nützen?»
«Ich bezweifle es. Gegen deinen Zustand gibt es nur ein Mittel, und ich denke nicht im Traum daran, dir das anzutun. Ich habe dir schon genug zugemutet.»
«Ist mir egal. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dem abzuhelfen, müssen wir’s tun.»
«Walt, ich rede von Kastration. Wenn du dir die Eier abschneidest, hast du vielleicht eine Chance.»
«Haben Sie vielleicht gesagt?»
«Sicher ist gar nichts. Der Franzose hat es getan und bis zu seinem vierundsechzigsten Lebensjahr als Levitator wirken können. Der Tscheche hat es getan, und es hat überhaupt nichts genützt. Er hat sich umsonst verstümmelt, und zwei Monate später ist er von
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