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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der Karlsbrücke in den Tod gesprungen.»
    «Ich weiß nicht, was ich da sagen soll.»
    «Natürlich nicht. Ich wüsste an deiner Stelle auch nicht, was ich da sagen sollte. Deshalb schlage ich ja vor, dass wir Schluss machen. Ich erwarte nicht von dir, dass du so etwas tust. Das kann kein Mann von einem anderen Mann verlangen. Das wäre unmenschlich.»
    «Na ja, bei so unklaren Chancen wär es nicht sonderlich klug, das zu riskieren, oder? Ich meine, wenn ich als Walt der Wunderknabe aufhöre, hab ich immer noch meine Eier zur Gesellschaft. Ich will ungern am Ende mit ganz leeren Händen dastehen.»
    «Richtig. Und deshalb ist das Thema beendet. Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu reden. Wir hatten eine Glückssträhne, und jetzt ist sie vorbei. Immerhin kannst du Schluss machen, während du noch ganz oben bist.»
    «Aber wenn die Kopfschmerzen mal wieder weggehen?»
    «Werden sie nicht. Verlass dich drauf.»
    «Wie können Sie das wissen? Bei diesen anderen war es ja vielleicht so, aber wenn ich nun anders bin?»
    «Bist du nicht. Es ist ein dauerhafter Zustand, für den es keine Heilung gibt. Das Risiko, das wir eben ausgeschlossen haben, wäre die einzige Chance; ansonsten werden dich die Kopfschmerzen dein Leben lang begleiten. Für jede Minute, die du in der Luft verbringst, wirst du auf dem Boden drei Stunden lang rasende Schmerzen haben. Und je älter du wirst, desto heftiger werden die Schmerzen sein. Das ist die Rache der Schwerkraft, Kleiner. Wir dachten, wir hätten sie besiegt, aber jetzt zeigt sich, dass sie stärker ist als wir. So ist das Leben. Eine Zeitlang haben wir gewonnen, und jetzt haben wir verloren. Schwamm drüber. Wenn Gott es so will, dann müssen wir uns seinem Willen beugen.»
    Es war alles so traurig, so bedrückend, so sinnlos. Da hatte ich so lange für meinen Erfolg gekämpft, und jetzt, kurz davor, in die Geschichte einzugehen, musste ich die Sache sausenlassen und abtreten. Meister Yehudi schluckte die bittere Pille, ohne mit der Wimper zu zucken. Er trug unser Schicksal mit stoischer Gelassenheit und weigerte sich, dagegen aufzubegehren. Schlechte Nachrichten widerspruchslos hinzunehmen war sicher eine löbliche Haltung, aber ich hatte so was nicht im Programm. Als uns nichts mehr zu sagen einfiel, stieg ich aus dem Bett, tobte wie ein durchgedrehter Schattenboxer im Zimmer herum und bearbeitete Möbel und Wände mit Fäusten. Ich warf einen Stuhl um, stieß mit Gepolter den Nachttisch zu Boden und fluchte aus Leibeskräften über mein Unglück. Meister Yehudi, der weise alte Mann, ließ mich gewähren. Als zwei Krankenschwestern ins Zimmer stürmten, um nach dem Rechten zu sehen, versprach er für jeden Schaden aufzukommen und scheuchte sie ruhig hinaus. Er kannte mich, er wusste, dass meine Wut Gelegenheit brauchte, sich Luft zu verschaffen. Ich fraß nichts in mich hinein; Walt hielt nicht auch noch die andere Wange hin. Wenn mich die Welt schlug, musste ich zurückschlagen.
    Sei’s drum. Es war klug von Meister Yehudi, dass er mir erlaubte, mich auszutoben; es war ja nicht seine Schuld, wenn ich mich wie ein Irrer aufführte und über die Stränge schlug. Mitten in meinem Wutanfall hatte ich plötzlich den dümmsten Einfall meines Lebens, das Dämlichste, was man sich denken kann. Ah, damals kam er mir ziemlich clever vor, aber bloß, weil ich den Tatsachen noch immer nicht ins Gesicht sehen konnte – und wer die Tatsachen leugnet, kommt in Teufels Küche. Aber ich wollte den Meister unbedingt widerlegen, ich wollte ihm beweisen, dass seine Theorien über meinen Zustand bloß kalter Kaffee waren. Und so unternahm ich an diesem 3. November 1929 in meinem Krankenhauszimmer in Philadelphia einen letzten verzweifelten Versuch, meine Karriere zu retten. Ich hörte auf, an die Wand zu hämmern, drehte mich um und sah den Meister an, und dann breitete ich die Arme aus und hob vom Boden ab.
    «Hier!», schrie ich ihn an. «Schauen Sie gut hin und sagen Sie mir, was Sie da sehen!»
    Der Meister musterte mich mit finsterer, trauriger Miene. «Ich sehe die Vergangenheit», sagte er. «Ich sehe Walt den Wunderknaben zum letzten Mal. Ich sehe jemand, dem es gleich leidtun wird, was er da macht.»
    «Ich bin so gut wie immer!», brüllte ich zurück. «Ich bin immer noch der Allergrößte!»
    Der Meister blickte auf seine Uhr. «Zehn Sekunden», sagte er. «Für jede Sekunde, die du da oben bleibst, wirst du drei Minuten Schmerzen haben. Ich garantiere es dir.»
    Da ich glaubte, mein

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