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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Feier meiner Wiederherstellung gemeinsam einen Film an. Am nächsten Abend jedoch, bei meinem Auftritt im Fosberg Theatre, ging es wieder genau wie in Scranton. Ich legte eine perfekte Show hin, und als am Ende der Vorhang fiel, brach ich zusammen. Wieder setzte, sobald ich die Augen aufgeschlagen hatte, der Kopfschmerz ein, und diesmal verschwand er nicht nach einer Nacht. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, staken die Dolche noch immer in meinem Schädel und verschwanden erst um vier Uhr nachmittags – mehrere Stunden nachdem Meister Yehudi notgedrungen die Vorstellung für diesen Abend abgesagt hatte.
    Alles deutete auf das Unglück in New Haven hin. Der Fall auf den Kopf war die wahrscheinlichste Ursache meines Problems, aber wenn ich tatsächlich in den letzten Wochen mit einer Gehirnerschütterung rumgelaufen war, muss es die leichteste Gehirnerschütterung der Medizingeschichte gewesen sein. Wie sonst war die seltsame und beunruhigende Tatsache zu erklären, dass ich, solange ich mit beiden Füßen auf dem Boden stand, keinerlei Unwohlsein verspürte? Die Kopfschmerzen und Schwindelanfälle kamen erst nach der Vorstellung, und wenn der Zusammenhang zwischen der Fliegerei und meinem neuen Zustand so eindeutig war, wie es schien, fragte sich der Meister, ob nicht mein Gehirn so erschüttert worden war, dass jedes Mal, wenn ich vom Boden abhob, ein übermäßiger Druck auf meine Hirnschlagadern ausgeübt wurde, was wiederum die fürchterlichen Anfälle nach der Landung zur Folge hatte. Er wollte mich ins Krankenhaus bringen und mir den Schädel röntgen lassen. «Wozu ein Risiko eingehen?», sagte er. «Die Tournee ist im Augenblick ohnehin ereignislos, und eine Ruhepause von einer Woche oder zehn Tagen könnte jetzt genau das Richtige für dich sein. Sollen sie ein paar Tests mit dir machen und in deinem neurologischen Schaltkasten herumschnüffeln, vielleicht kommen sie ja hinter diese verdammte Sache.»
    «Ausgeschlossen», sagte ich. «Ich geh nicht ins Krankenhaus.»
    «Bei einer Gehirnerschütterung hilft nur Ruhe. Wenn es das ist, hast du keine andere Wahl.»
    «Vergessen Sie’s. Eher arbeite ich in einem Straflager, als dass ich meinen Arsch in so einem Laden parke.»
    «Denk an die Krankenschwestern, Walt. All diese hübschen Mädchen in weißen Kitteln. Tag und Nacht von einem Dutzend solcher Zuckerpüppchen verhätschelt zu werden! Wenn du es klug anstellst, kannst du vielleicht sogar eine vernaschen.»
    «Sie können mich nicht in Versuchung führen. Keiner wird einen Narren aus mir machen. Wir sind noch für ein paar Shows gebucht – und wenn es mich umbringt, ich werde sie absolvieren.»
    «In Reading und Altoona ist doch sowieso nichts los, Junge. Auf Elmira und Binghampton können wir auch verzichten, da kräht kein Hahn danach. Ich denke an New York, und du bestimmt auch. Das ist die Stadt, für die du in Form sein musst.»
    «Während der Vorstellung tut mir der Kopf nicht weh. Das ist die Hauptsache, Chef. Solange ich kann, mache ich weiter. Wen kümmert’s, wenn ich hinterher ein bisschen leide? Mit Schmerzen kann ich leben. Das Leben ist sowieso ein einziger Schmerz, und richtig gut geht’s mir bloß, wenn ich auf der Bühne bin und meine Show vorführe.»
    «Aber die Show macht dich kaputt. Wenn das mit den Kopfschmerzen so weitergeht, ist bald Schluss mit Walt dem Wunderknaben. Dann werde ich dich in Mr. Vertigo umtaufen müssen.»
    «Mr. wie?»
    «Mr. Schwindelig. Mr. Höhenangst.»
    «Ich hab vor gar nichts Angst. Das wissen Sie.»
    «Du bist ohne Furcht und Tadel, Kleiner, und das bewundere ich sehr. Aber jeder Levitator macht in seiner Karriere eine Phase durch, wo ihm die Luft gefährlich wird, und ich fürchte, da sind wir jetzt angekommen.»
    So palaverten wir noch eine Stunde lang weiter, und am Ende hatte ich ihn immerhin so weit, dass er mir noch eine letzte Chance gab. Wir einigten uns darauf, dass ich am nächsten Abend in Reading auftreten würde, und, Kopfschmerzen oder nicht, wenn es mir am Abend danach halbwegs gutging, würde ich auch in Altoona auftreten wie geplant. Es war verrückt, so darauf zu drängen, aber dieser zweite Anfall hatte mir einen Heidenbammel eingejagt, er schien mir zu besagen, dass ich langsam alt wurde. Was, wenn die Kopfschmerzen bloß die erste Stufe waren? Ich sah meine einzige Hoffnung im Kampf, ich musste auftreten, bis es mir entweder besserging oder ich es nicht mehr ertrug – dann konnten wir immer noch weitersehen. Ich war so

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