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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Ziel erreicht zu haben, und eine so lange Quälerei nicht noch mal riskieren wollte, beschloss ich herunterzukommen. Und da geschah es – genau wie der Meister vorausgesagt hatte. Kaum berührten meine Zehen den Boden, platzte mir der Schädel, explodierte der Schmerz mit einer solchen Gewalt, dass ich Sterne sah und halb wahnsinnig wurde. Ein Schwall Kotze fuhr mir aus dem Hals und landete zwei Meter weiter an der Wand. In meinem Kopf sprangen Schnappmesser auf und bohrten sich tief in mein Hirn. Ich zitterte, ich heulte, ich brach zusammen, und diesmal genoss ich nicht den Luxus, das Bewusstsein zu verlieren. Ich zappelte wie eine Flunder mit einem Haken im Auge, und als ich um Hilfe winselte, als ich den Meister anflehte, einen Arzt zu holen, der mir eine Spritze geben sollte, schüttelte er nur den Kopf und wandte sich ab. «Du wirst darüber hinwegkommen», sagte er. «In einer knappen Stunde bist du wieder der alte.» Dann räumte er, ohne mich mit einem einzigen Wort weiter zu trösten, in aller Ruhe das Zimmer auf und packte meine Sachen.
    Eine andere Behandlung hatte ich auch nicht verdient. Seine Worte waren auf taube Ohren gestoßen, und das ließ ihm keine andere Wahl, als den Mund zu halten und meine Taten für sich selbst sprechen zu lassen. Nun also sprach der Schmerz zu mir, und diesmal hörte ich zu. Ich hörte ihm siebenundvierzig Minuten lang zu, und als die Schulstunde vorbei war, hatte ich alles gelernt, was ich wissen musste. Es war der reinste Schnellkurs in Sachen Lebensweisheit. Eine Lektion in Sachen Leid. Der Schmerz hatte mir den Kopf zurechtgesetzt, und zwar gründlich, und als ich später an diesem Vormittag aus dem Krankenhaus ging, stand ich wieder halbwegs auf dem Boden der Tatsachen. Jetzt wusste ich, wo es langging. Ich wusste es in allen Winkeln meiner Seele und mit allen Poren meiner Haut, und ich würde es nie mehr vergessen. Die Glanzzeiten waren vorbei. Walt der Wunderknabe war tot, und es gab nicht die kleinste Chance, dass er wiederauferstehen würde.
    Schweigend gingen wir zum Hotel des Meisters zurück, liefen durch die Straßen der Stadt wie zwei Gespenster. Nach einer knappen Viertelstunde standen wir vorm Eingang, und dort fiel mir nichts Besseres ein, als die Hand auszustrecken und Abschiedsworte zu stammeln.
    «Tja», sagte ich. «Schätze, hier trennen sich unsere Wege.»
    «Ach, ja?», sagte der Meister. «Wieso denn das?»
    «Sie werden sich doch jetzt einen neuen Jungen suchen, und wenn ich bleibe, bin ich Ihnen bloß im Weg.»
    «Und weshalb sollte ich mir einen neuen Jungen suchen?» Er schien wirklich erstaunt über die Idee.
    «Weil ich eine Niete bin, deshalb. Weil die Nummer gestorben ist, weil ich Ihnen nichts mehr nützen kann.»
    «Du glaubst, ich würde dich einfach so fallenlassen?»
    «Warum nicht? Gerechtigkeit muss sein, und wenn ich es nicht mehr bringe, kann es Ihnen keiner übelnehmen, wenn Sie neue Pläne machen.»
    «Das habe ich bereits getan. Ich habe Hunderte von Plänen gemacht, Tausende. Ich habe Pläne in rauen Mengen. Mir platzt schier der Kopf vor lauter Plänen, und bevor sie mich zum Wahnsinn treiben, will ich sie rauslassen und vor dir ausbreiten.»
    «Vor mir?»
    «Vor wem denn sonst, Kindskopf? Aber hier im Eingang können wir nicht ernsthaft diskutieren, oder? Komm mit aufs Zimmer. Wir bestellen uns was zu essen, und dann wollen wir Nägel mit Köpfen machen.»
    «Ich kapier immer noch nichts.»
    «Was ist da zu kapieren? Mit dem Levitationsgeschäft mag ja Schluss sein, aber das heißt noch lange nicht, dass wir den Laden dichtmachen.»
    «Sie meinen, wir sind immer noch Partner?»
    «Fünf Jahre sind eine lange Zeit, Kleiner. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, bist du mir irgendwie ans Herz gewachsen. Und ich werde auch nicht jünger. Ich wäre ein Narr, mir jetzt einen anderen zu suchen. In meinem Alter. Ich habe mein halbes Leben gebraucht, dich zu finden, und ich denke gar nicht daran, dich wegzuschicken, nur weil wir ein paar Rückschläge erlitten haben. Wie gesagt, ich habe einiges mit dir zu besprechen. Wenn dir meine Pläne zusagen und du mitmachen willst, bitte sehr. Wenn nicht, teilen wir das Geld und gehen auseinander.»
    «Das Geld. Mannomann, das Geld hab ich glatt vergessen.»
    «Du hattest eben anderes im Kopf.»
    «Bin so kaputt gewesen, dass ich gar nicht mehr dran gedacht habe. Also, wie viel haben wir? Wie viel ist es, Chef, was schätzen Sie?»
    «Siebenundzwanzigtausend Dollar. Sie liegen im

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