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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ich dachte nicht daran, ihm gegenüber eine dicke Lippe zu riskieren – nicht in einem solchen Augenblick. Er wollte die Pistole, und ich hatte die Aufgabe, sie ihm zu holen. Also kletterte ich ohne weitere Widerrede in den Wagen und holte sie.
    «Ich danke dir, Walt», sagte er, als ich sie ihm eine Minute später in die Hand legte. «Du bist ein Junge ganz nach meinem Geschmack.»
    «Passen Sie bloß auf», sagte ich. «Die Waffe ist geladen, und noch einen Unfall können wir wirklich nicht brauchen.»
    «Komm her, Kleiner», sagte er und klopfte neben sich auf den Boden. «Setz dich zu mir und hör dir an, was ich zu sagen habe.»
    Schon bereute ich meinen Gehorsam. Sein freundlicher Tonfall verriet mir alles, und als ich mich zu ihm setzte, schlug mein Magen Purzelbäume und sprang mir in die Speiseröhre. Der Meister war kreidebleich. An seinem Schnäuzer hingen Schweißtröpfchen, und er schlotterte wie im Fieber. Aber sein Blick war fest. Alles, was ihm an Kraft noch geblieben war, steckte in seinen Augen, und mit diesen Augen ließ er mich nun nicht mehr los.
    «Betrachten wir die Situation, Walt. Wir sind in einer bösen Klemme, und wir müssen unbedingt da raus. Wenn das nicht bald geschieht, werden wir beide verrecken.»
    «Schon möglich. Aber es wäre unvernünftig, hier wegzugehen, bevor es ein bisschen kühler geworden ist.»
    «Unterbrich mich nicht. Lass mich erst ausreden, danach bist du an der Reihe.» Er legte eine kurze Pause ein und fuhr sich mit der Zunge über die Lippe, hatte aber nicht genug Speichel, um sie anzufeuchten. «Wir müssen aufstehen und von hier weggehen. Das steht fest, und je länger wir warten, desto schlimmer wird es werden. Das Problem ist nur, dass ich weder aufstehen noch gehen kann. Daran ist nichts zu ändern. Bei Sonnenuntergang werde ich nur noch schwächer sein als jetzt schon.»
    «Vielleicht, vielleicht auch nicht.»
    «Spar dir deine Vielleichts, kleiner Freund. Anstatt hier rumzusitzen und kostbare Zeit zu vergeuden, habe ich dir einen Vorschlag zu machen.»
    «Ja, und wie sieht der aus?»
    «Ich bleibe hier, und du gehst alleine los.»
    «Vergessen Sie’s. Ich weiche nicht von Ihrer Seite, Meister. Das hab ich Ihnen vor langer Zeit versprochen, und ich werde mein Wort halten.»
    «Deine gute Gesinnung in allen Ehren, Junge, aber sie wird dir nichts als Ärger einbringen. Du musst hier weg, und das kannst du nicht, solange du mich am Hals hast. Sieh den Tatsachen ins Auge. Das ist der letzte Tag, den wir zusammen verbringen werden. Du weißt das, und ich weiß das, und je schneller wir uns das eingestehen, desto besser für uns beide.»
    «Ausgeschlossen. Da mach ich nicht mit.»
    «Du willst mich nicht im Stich lassen. Du meinst zwar auch, dass du gehen solltest, aber dich schmerzt die Vorstellung, mich in diesem Zustand hier liegenzulassen. Du willst nicht, dass ich leide, und ich bin dir dankbar dafür. Es beweist, dass du deine Lektion gut gelernt hast. Aber ich biete dir einen Ausweg an, und wenn du ein bisschen darüber nachdenkst, wirst du merken, dass es für uns beide die beste Lösung ist.»
    «Was für ein Ausweg?»
    «Ganz einfach. Du nimmst die Pistole und schießt mir eine Kugel in den Kopf.»
    «Also wirklich, Meister. Mir ist jetzt nicht nach Scherzen zumute.»
    «Das ist kein Scherz, Walt. Du tötest mich, dann machst du dich auf den Weg.»
    «Die Sonne muss Sie um den Verstand gebracht haben. Sie haben doch bloß eine Kugel in der Schulter. Klar tut das weh, aber umbringen wird es Sie nicht. So was bringt jeder Arzt ruck, zuck wieder in Ordnung.»
    «Ich rede nicht von der Kugel. Ich rede von dem Krebs in meinem Bauch. Wir brauchen uns da jetzt nichts mehr vorzumachen. Meine Eingeweide sind völlig kaputt und zerstört, ich habe höchstens noch sechs Monate zu leben. Auch wenn ich es schaffen würde, hier wegzukommen, bin ich erledigt. Warum die Sache also nicht selbst in die Hand nehmen? Sechs Monate Schmerz und Leid – mehr habe ich nicht zu erwarten. Ich hatte gehofft, dir eine neue Karriere aufbauen zu können, bevor ich ins Gras beiße, aber es hat nicht sollen sein. Schade. Wirklich sehr schade, aber du tust mir einen großen Gefallen, wenn du jetzt auf den Abzug drückst, Walt. Ich bin auf dich angewiesen, und ich weiß, du wirst mich nicht enttäuschen.»
    «Schluss jetzt. Hören Sie auf damit, Meister. Sie wissen ja gar nicht, was Sie da sagen.»
    «Der Tod ist nicht so schlimm, Walt. Wenn ein Mann am Ende ist, hat er nur noch den

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