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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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liegen bleiben, zog mir den Gürtel aus der Hose und ließ ihn ins Wageninnere hinab. So schien es zu gehen. Meister Yehudi packte den Lederriemen mit der linken Hand, und ich zog langsam an. Ich will nicht mehr daran denken, wie oft er sich dabei stieß, wie oft er abrutschte, aber wir gaben nicht auf, und nach zwanzig, dreißig Minuten war er endlich draußen.
    Und da saßen wir nun also in der Mojave-Wüste. Das Auto war ein Wrack, wir hatten kein Wasser, die nächste Ortschaft war sechzig Kilometer entfernt. Das war schon schlimm genug, aber das Schlimmste in dieser üblen Situation war die Verletzung des Meisters. Er hatte in den letzten zwei Stunden ungeheuer viel Blut verloren. Er hatte Knochenbrüche und Muskelrisse, und der Ausstieg aus dem Wagen hatte ihm seine letzten Kräfte geraubt. Ich setzte ihn in den Schatten des Pierce Arrow, rannte los und sammelte die auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke ein. Als ich von seinen eleganten weißen Hemden und maßgefertigten Seidenkrawatten so viele aufgehoben hatte, wie ich tragen konnte, schleppte ich sie zurück, um sie als Bandagen zu verwenden. Es war das Beste, was mir einfiel, nützte aber nicht viel. Ich knotete die Krawatten zusammen, zerriss die Hemden in lange Streifen und verband ihn so fest ich konnte – aber das Blut sickerte schon durch, bevor ich fertig war.
    «Wir ruhen jetzt erst mal ’ne Weile aus», sagte ich. «Wenn die Sonne untergeht, schauen wir, ob Sie aufstehen und gehen können.»
    «Es hat keinen Zweck, Walt», sagte er. «Ich werde es nie schaffen.»
    «Natürlich werden Sie. Wir gehen die Straße runter, und dann kommt bestimmt bald ein Auto und nimmt uns mit.»
    «Hier ist den ganzen Tag kein Auto vorbeigekommen.»
    «Na und? Irgendjemand wird schon auftauchen. Das sagen die Regeln der Statistik.»
    «Und wenn doch keiner kommt?»
    «Dann trage ich Sie auf dem Rücken. Jedenfalls bekommen wir Sie irgendwie zu einem Kurpfuscher, der Sie wieder zusammenflickt.»
    Meister Yehudi schloss vor Schmerz die Augen und flüsterte: «Sie haben das Geld genommen, ja?»
    «Richtig geraten. Alles weg, bis auf den letzten Penny.»
    «Soso», sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. «Wie gewonnen, so zerronnen, was, Walt?»
    «Kann man so sagen.»
    Meister Yehudi fing an zu lachen, aber die Erschütterung war zu schmerzhaft. Er schwieg, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Dann sah er mir in die Augen und sagte aus dem Nichts heraus: «In drei Tagen wären wir in New York gewesen.»
    «Das ist Schnee von gestern, Boss. Morgen sind wir in Hollywood.»
    Der Meister sah mich lange schweigend an. Dann streckte er plötzlich die linke Hand aus und packte mich am Arm. «Alles, was du bist», sagte er schließlich, «bist du durch mich. Habe ich recht, Walt?»
    «Klar. Bevor Sie mich aufgelesen haben, war ich ein ganz schön armer Schlucker.»
    «Du sollst aber wissen, dass es umgekehrt genauso ist. Alles, was ich bin, bin ich durch dich.»
    Darauf fiel mir nichts ein, drum schwieg ich lieber. Es lag etwas Seltsames in der Luft, und plötzlich war mir gar nicht mehr so klar, wo es mit uns hingehen würde. Nicht dass ich Angst bekam – zumindest noch nicht –, aber mein Magen zitterte und flatterte, und das war immer ein sicheres Anzeichen für eine atmosphärische Störung. Immer wenn in meinem Bauch dieses Theater losging, wusste ich, dass ein Wetterwechsel bevorstand.
    «Keine Sorge, Walt», fuhr der Meister fort. «Es wird schon alles gut werden.»
    «Hoffentlich. So, wie Sie mich jetzt ansehen, kann ich das große Zittern kriegen.»
    «Ich denke bloß nach. Ich denke so gründlich über alles nach, wie ich kann. Lass dich nicht davon beunruhigen.»
    «Ich bin nicht beunruhigt. Solange Sie mir nichts vormachen, kann mich nichts aus der Ruhe bringen.»
    «Du vertraust mir doch, Walt?»
    «Klar vertraue ich Ihnen.»
    «Du würdest alles für mich tun, ja?»
    «Sicher, das wissen Sie.»
    «Dann tu jetzt etwas für mich. Steig in den Wagen und hol mir die Pistole aus dem Handschuhfach.»
    «Die Pistole? Was wollen Sie denn damit? Hier gibt’s keine Räuber mehr zu erschießen. Hier draußen sind nur wir zwei und der Wind – und das bisschen Wind ist kaum der Rede wert.»
    «Stell keine Fragen. Tu, was ich sage, und bring mir die Pistole.»
    Hatte ich eine Wahl? Ja, vermutlich hatte ich eine. Ich hätte mich weigern können, und damit wäre das Thema ein für alle Mal erledigt gewesen. Aber der Meister hatte mir einen Befehl gegeben, und

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