Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Wunsch zu sterben.»
    «Ich mach das aber nicht. Nicht in tausend Jahren. Sie können mich bis in alle Ewigkeit bitten, aber ich erhebe niemals die Hand gegen Sie.»
    «Wenn du es nicht tust, werde ich es selbst tun müssen. Das ist viel schwerer, ich hatte gehofft, du würdest es mir ersparen.»
    «Herrgott, Meister, nehmen Sie die Pistole runter.»
    «Bedaure, Walt. Wenn du es nicht mit ansehen willst, dann verabschiede dich jetzt von mir.»
    «Ich sage nichts. Kein Wort, bis Sie die Pistole weggelegt haben.»
    Aber er hörte schon nicht mehr zu. Die Augen noch immer auf mich gerichtet, hob er die Pistole an den Kopf und spannte den Hahn. Es war, als fordere er mich heraus, ihn aufzuhalten, ihm die Pistole wegzureißen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich saß einfach da und sah zu, ich rührte keinen Finger.
    Seine Hand zitterte, Schweiß strömte ihm von der Stirn, aber sein Blick war noch immer fest und klar. «Vergiss die guten Zeiten nicht», sagte er. «Vergiss nicht, was ich dir beigebracht habe.» Dann schloss er die Augen und drückte auf den Abzug.

[zur Inhaltsübersicht]
    III
    Es dauerte drei Jahre, bis ich Onkel Slim aufgespürt hatte. Über tausend Tage streifte ich auf der Jagd nach dem Schweinehund durchs ganze Land und sämtliche Städte, von San Francisco bis New York. Ich lebte von der Hand in den Mund, schnorrte und bettelte mich durch und führte bald wieder das Bettlerleben, für das ich geboren war. Ich trampte, ging zu Fuß, fuhr auf Güterzügen. Ich schlief in Hauseingängen, Pennerquartieren, Absteigen und unter freiem Himmel. In einigen Städten legte ich meinen Hut auf den Bürgersteig und jonglierte für die Passanten mit Apfelsinen. In anderen fegte ich Fußböden und leerte Mülltonnen. In noch anderen stahl ich. Ich klaute Essen aus Restaurantküchen, Geld aus Registrierkassen, Strümpfe und Unterwäsche von den Wühltischen bei Woolworth – was ich eben in die Finger bekam. Ich stand Schlange für ein Stück Brot und schlief mich durch Predigten bei der Heilsarmee. Ich steppte an Straßenecken. Ich sang für mein Abendessen. Einmal, in einem Kino in Seattle, bekam ich zehn Dollar von einem alten Mann, der meinen Pimmel lutschen wollte. Ein andermal, auf der Hennepin Avenue in Minneapolis, fand ich einen Hundertdollarschein in der Gosse. Im Lauf dieser drei Jahre kamen in einem Dutzend verschiedener Städte ein Dutzend Leute auf mich zu und fragten mich, ob ich Walt der Wunderknabe sei. Der Erste überraschte mich noch, aber danach hatte ich meine Antwort parat. «Bedaure, Mann», sagte ich dann jedes Mal. «Nie von ihm gehört. Sie müssen mich mit jemand verwechseln.» Und ehe sie weiter in mich dringen konnten, tippte ich an meine Mütze und verschwand in der Menge.
    Als ich ihm auf die Spur kam, ging ich auf die achtzehn zu. Ich hatte meine volle Größe von eins achtundsechzig erreicht, und es war zwei Monate vor Roosevelts Amtseinführung. Die Alkoholschmuggler waren zwar noch im Geschäft, verkauften aber, da die Prohibition in den letzten Zügen lag, nur noch ihre letzten Vorräte und wandten sich schon neuen krummen Geschäften zu. Und so fand ich meinen Onkel. Als mir klar wurde, dass man Hoover in die Wüste schicken würde, klopfte ich bei jedem Schwarzhändler an, den ich finden konnte. Slim war genau der Typ, der sich bei einer so aussichtslosen Sache wie illegalem Schnaps einklinken würde, und wenn er jemanden um einen Job bat, würde er es wohl nicht weit von zu Hause tun. Damit schieden Ost- und Westküste aus. Dort hatte ich schon genug Zeit verloren, drum knöpfte ich mir jetzt seine alte Heimat vor. Nachdem sich in Saint Louis, Kansas City und Omaha nichts ergeben hatte, graste ich immer größere Streifen des Mittleren Westens ab. Milwaukee, Cincinnati, Minneapolis, Chicago, Detroit. Von Detroit wieder zurück nach Chicago. Bei drei früheren Besuchen hatte ich dort keine Spur von ihm gefunden, aber bei meinem vierten wendete sich das Blatt. Von wegen, aller guten Dinge sind drei! Nach drei Strikes ist man out, aber mit vier Bällen darf man zur First Base, und genau dort kam ich endlich hin, als ich im Januar 1933 nach Chicago zurückkehrte. Die Spur führte nach Rockford, Illinois – bloß hundertdreißig Kilometer die Straße runter –, und dort entdeckte ich ihn: um drei Uhr morgens in einem Lagerhaus, wo er zweihundert Kisten mit unverzolltem kanadischem Roggenwhisky bewachte.
    Ich hätte ihn ohne weiteres gleich an Ort und Stelle umnieten

Weitere Kostenlose Bücher