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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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können. Ich hatte eine geladene Pistole in der Tasche, und da es dieselbe Waffe war, die der Meister drei Jahre zuvor gegen sich selbst gerichtet hatte, wäre es bloß gerecht gewesen, sie jetzt gegen Slim zu benutzen. Aber ich hatte was anderes vor, und das nun schon so lange, dass ich gar nicht dran dachte, mich von meinen Gefühlen hinreißen zu lassen. Slim einfach zu töten reichte mir nicht. Er musste wissen, wer das Urteil vollstreckte, und bevor ich ihm zu sterben erlaubte, sollte er Gelegenheit haben, ein Weilchen mit seinem Tod zu leben. Gerechtigkeit muss sein, und wenn Rache nicht süß sein darf, warum sich überhaupt damit abgeben? Jetzt, wo ich vor dem Schlaraffenland stand, wollte ich auch ordentlich Grießbrei fressen.
    Mein Plan war ziemlich kompliziert. Er beruhte ganz auf meinen Erinnerungen an die Vergangenheit, und ohne die Bücher, die Äsop mir damals auf der Farm in Cibola vorgelesen hatte, wäre ich nie auf so was gekommen. Eins dieser Bücher, ein dicker Wälzer mit zerfleddertem blauem Umschlag, handelte von König Artus und den Rittern der Tafelrunde. Neben meinem Namensvetter Sir Walter waren diese Jungs in ihren Eisenrüstungen meine Lieblingshelden, von denen ich mir öfter vorlesen ließ als von allen anderen. Wann immer ich das Bedürfnis nach Gesellschaft hatte (zum Beispiel, wenn ich meine Wunden pflegte, oder einfach, wenn ich mich nach der mühsamen Arbeit mit dem Meister niedergeschlagen fühlte), unterbrach Äsop seine Studien und kam zu mir nach oben, und ich werde nie vergessen, wie tröstlich es war, diesen Geschichten von schwarzer Magie und Abenteuern zu lauschen. Jetzt, wo ich allein auf der Welt war, dachte ich oft daran zurück. Ich war schließlich selbst auf der Suche. Ich suchte meinen Heiligen Gral, und nach ungefähr einem Jahr geschah etwas Seltsames: Die Schale aus der Geschichte wurde zu einer wirklichen Schale. Trink aus dieser Schale, und du wirst leben. Aber das Leben, nach dem ich strebte, konnte nur mit dem Tod meines Onkels beginnen. Das war mein Heiliger Gral, und bevor ich ihn nicht gefunden hatte, konnte es für mich kein richtiges Leben geben. Trink aus dieser Schale, und du wirst sterben. Unmerklich verwandelte sich die eine Schale in die andere, und während ich weiter von Ort zu Ort zog, wurde mir immer klarer, wie ich ihn umbringen würde. Es war in Lincoln, Nebraska – ich hockte über einem Teller Suppe in der Saint Olaf Lutheran Mission –, als der Plan Gestalt annahm, und seither stand die Sache fest. Ich würde den Scheißkerl zwingen, eine Schale mit Strychnin auszutrinken. Von dem Tag an ließ mich diese Vision nicht mehr los. Ich würde ihm die Knarre an den Schädel halten und ihn zwingen, sich selbst den Tod zu geben.
    Nun also schlich ich mich in diesem kalten, leeren Lagerhaus in Rockford, Illinois, von hinten an ihn heran. Ich hatte die letzten drei Stunden hinter einem Stapel Holzkisten gekauert und gewartet, bis Slim schläfrig genug war, dass er wegdöste, und jetzt war der Augenblick gekommen. Dafür, dass ich so viele Jahre auf diesen Augenblick hingearbeitet hatte, war ich bemerkenswert ruhig.
    «Hallo, Onkel», flüsterte ich ihm ins Ohr. «Lange nicht gesehen.»
    Die Pistole war an seinen Hinterkopf gedrückt, aber damit er auch wirklich kapierte, spannte ich mit dem Daumen den Hahn. Über dem Tisch, an dem er saß, hing eine nackte 40-Watt-Birne, und vor ihm ausgebreitet war alles, was ein Nachtwächter so braucht: eine Thermoskanne mit Kaffee, eine Flasche Whisky, ein Schnapsglas, die Sonntags-Comics und ein 38er Revolver.
    «Walt?», sagte er. «Bist du das, Walt?»
    «Höchstpersönlich, Freundchen. Dein Lieblingsneffe Nummer eins.»
    «Ich hab gar nichts gehört. Wie zum Teufel hast du es geschafft, dich hier reinzuschleichen?»
    «Leg die Hände auf den Tisch und dreh dich nicht um. Wenn du versuchst, nach der Knarre zu greifen, bist du hinüber. Kapiert?»
    Er stieß ein nervöses Lachen aus. «Ja, kapiert.»
    «Wie in alten Zeiten, was? Einer von uns sitzt auf einem Stuhl, und der andere richtet eine Pistole auf ihn. Du weißt es bestimmt zu schätzen, dass ich mich an die Familientradition halte.»
    «Du hast keinen Grund, das zu tun, Walt.»
    «Schnauze. Wenn du anfängst zu betteln, mach ich dich auf der Stelle kalt.»
    «Herrgott, Junge. Gib mir noch eine Chance.»
    Ich schnüffelte hinter seinem Kopf. «Was ist das für ein Geruch, Onkel? Du hast dir doch nicht etwa schon in die Hose geschissen? Ich hab dich

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