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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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für einen harten Burschen gehalten. Die ganzen Jahre hab ich immer daran denken müssen, was für ein harter Bursche du bist.»
    «Du spinnst. Gar nichts hab ich gemacht.»
    «Für mich stinkt’s hier aber nach Scheiße. Oder ist es bloß Angst? Riecht es so, wenn du Angst hast, Eddie?»
    In der linken Hand hielt ich die Pistole, in der rechten eine Tasche. Bevor er weiterreden konnte – er ging mir jetzt schon auf die Nerven –, schwang ich die Tasche an seinem Kopf vorbei und knallte sie vor ihm auf den Tisch. «Aufmachen», sagte ich. Als er den Reißverschluss aufzog, schob ich mich an ihm vorbei und steckte seine Waffe ein. Dann nahm ich langsam die Pistole von seinem Kopf und ging um den Tisch herum, bis ich ihm direkt gegenüberstand. Ich hielt die Waffe weiter auf sein Gesicht gerichtet, während er in die Tasche griff und den Inhalt hervorkramte: als Erstes die Flasche mit Schraubverschluss, in die ich die vergiftete Milch gefüllt hatte; dann die silberne Trinkschale. Die hatte ich zwei Jahre zuvor in einer Pfandleihe in Cleveland geklaut und seither immer mit mir rumgetragen. Sie war zwar nicht aus reinem Silber – bloß versilbert –, dafür aber mit kleinen Reiterfiguren verziert, und an dem Abend hatte ich sie poliert, dass sie nur so strahlte. Als sie neben der Flasche auf dem Tisch stand, trat ich ein paar Schritte zurück, um besser sehen zu können. Jetzt ging die Show los, und ich wollte nichts davon verpassen.
    Slim sah ziemlich alt aus, geradezu uralt. Er war um zwanzig Jahre gealtert, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und hatte einen so gekränkten, so gepeinigten und verwirrten Ausdruck in den Augen, dass ein nicht ganz so entschlossener Mensch wie ich womöglich ein bisschen Mitleid mit ihm bekommen hätte. Aber ich empfand gar nichts. Ich wollte nur seinen Tod, und selbst als ich ihm ins Gesicht sah und dort nach irgendwelchen Anzeichen von Menschlichkeit oder Güte suchte, berauschte mich die Vorstellung, ihn umzubringen.
    «Was soll das alles?», sagte er.
    «Zeit für einen Cocktail. Du schenkst dir jetzt einen anständigen Drink ein, Amigo, und dann trinkst du auf mein Wohl.»
    «Sieht aus wie Milch.»
    «Hundert Prozent – wenn nicht noch mehr. Frisch von Bessie der Kuh.»
    «Milch ist was für kleine Kinder. Ich mag dieses Scheißzeug nicht.»
    «Milch ist gesund. Macht starke Knochen und ein sonniges Gemüt. So alt, wie du aussiehst, Onkel, da wär’s gar keine so schlechte Idee, einen Schluck aus dem Jungbrunnen zu nehmen. Das wirkt Wunder, glaub mir. Ein paar Schlucke von dieser Flüssigkeit, und du wirst nie mehr so alt aussehen wie heute.»
    «Ich soll die Milch in die Schale da gießen. Hab ich das richtig verstanden?»
    «Gieß die Milch in die Schale, heb sie hoch und sag: ‹Ich wünsche dir ein langes Leben, Walt.› Und dann trink. Trink alles aus. Bis auf den letzten Tropfen.»
    «Und dann?»
    «Nichts. Du wirst der Welt ’nen großen Gefallen tun, Slim, und Gott wird dich dafür belohnen.»
    «In der Milch ist Gift, stimmt’s?»
    «Kann sein, kann auch nicht sein. Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.»
    «Quatsch. Wenn du denkst, ich trinke das Zeug, musst du bekloppt sein.»
    «Wenn du es nicht trinkst, bekommst du eine Kugel in den Kopf. Wenn du es trinkst, hast du vielleicht eine Chance.»
    «Klar. Und der Teufel feiert Weihnachten.»
    «Man kann nie wissen. Vielleicht tue ich das ja bloß, um dir Angst einzujagen. Vielleicht will ich ein Glas mit dir trinken, bevor wir von Geschäften reden.»
    «Geschäfte? Was für Geschäfte?»
    «Frühere Geschäfte, aktuelle Geschäfte. Vielleicht sogar künftige Geschäfte. Ich bin abgebrannt, Slim, ich brauch einen Job. Vielleicht bin ich hier, um dich um Hilfe zu bitten.»
    «Natürlich helfe ich dir, einen Job zu finden. Aber dafür brauche ich keine Milch zu trinken. Wenn du willst, rede ich gleich morgen früh mit Bingo.»
    «Gut. Ich werde drauf zurückkommen. Aber erst mal trinken wir unser Vitamin D.» Ich trat bis an die Tischkante vor und rammte ihm die Pistole unters Kinn – so fest, dass sein Kopf nach hinten knickte. «Und zwar hopplahopp.»
    Seine Hände zitterten inzwischen; trotzdem gelang es ihm, den Verschluss der Flasche aufzuschrauben. «Nicht kleckern», sagte ich, als er die Milch in die Trinkschale goss. «Wenn ein Tropfen danebengeht, drücke ich ab.» Die weiße Flüssigkeit strömte vom einen Behälter in den anderen, nichts landete auf dem Tisch. «Gut», sagte

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