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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Wagens; ich tanzte nach seiner Pfeife wie ein eifriger junger Hund. Das klingt demütigend, aber eigentlich machte es mir nichts aus, Lakai zu sein. Ich wusste, meine Chance würde kommen, und bis dahin war ich ihm bloß dankbar dafür, dass er mich genommen hatte. Es war schließlich die Zeit der Wirtschaftskrise, und wo konnte jemand wie ich schon ein besseres Angebot finden? Ich hatte keine Erfahrung, keine Kenntnisse, keine Ausbildung, nichts außer einer Karriere, die bereits zu Ende war, also schluckte ich meinen Stolz runter und tat wie geheißen. Wenn ich Stiefel lecken musste, um zu überleben, na schön, dann wurde ich eben der beste Stiefellecker der ganzen Stadt. Was machte es schon, wenn ich mir Bingos Geschichten anhören und über seine Witze lachen musste? Der Mann war kein schlechter Geschichtenerzähler, und er konnte, um die Wahrheit zu sagen, ganz schön komisch sein, wenn er wollte.
    Nachdem ich ihm meine Loyalität bewiesen hatte, legte er mir keine Steine mehr in den Weg. Zu Frühjahrsbeginn stieg ich bereits die Leiter aufwärts, und von da an lautete die Frage bloß noch, wie schnell ich die nächste Sprosse erreichen würde. Bingo tat mich mit Stutters Grogan zusammen, einem stotternden Ex-Boxer, mit dem ich die Runde durch Bars, Restaurants und Süßwarengeschäfte machte, um für O’Malley die wöchentlichen Schutzgelder einzutreiben. Wie sein Spitzname schon sagt, war Stutters kein großer Redner; dafür war ich umso zungenfertiger, und wenn wir an säumige oder widerspenstige Kunden gerieten, stellte ich ihnen so anschaulich dar, was schlechten Schuldnern so alles passieren konnte, dass mein Partner kaum je die Fäuste einzusetzen brauchte. Er war ein nützlicher Handlanger, und wenn es darum ging, den Leuten unseren Standpunkt klarzumachen, war es gut, ihn dabeizuhaben, aber ich bildete mir was drauf ein, Konflikte regeln zu können, ohne seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Meine guten Leistungen blieben Bingo nicht verborgen, und bald durfte ich auf der South Side Lotterielose verkaufen. Stutters und ich waren ein gutes Team gewesen, aber noch lieber arbeitete ich allein, und in den kommenden sechs Monaten lief ich mir in einem Dutzend verschiedener schwarzer Wohnviertel die Füße platt und plauderte mit meinen Stammkunden, die sich von ihrem Kleingeld trennten, um vielleicht ein paar Dollar extra zu gewinnen. Jeder hatte sein System, vom Zeitungsjungen an der Ecke bis zum Küster in der Kirche, und ich ließ mir gern von ihnen erklären, wie sie auf ihre Kombinationen kamen. Die Zahlen wurden aus allem Möglichen abgeleitet: aus Geburtsdaten und Träumen, aus Baseballergebnissen und Kartoffelpreisen, aus der Anzahl von Rissen im Straßenbelag, aus Autokennzeichen, Wäschezetteln und der Besucherzahl der Gebetsversammlung vom vergangenen Sonntag. Die Gewinnchancen waren praktisch gleich null, drum nahmen die Leute es mir nicht übel, wenn sie verloren; aber bei den seltenen Gelegenheiten, wo jemand einen Treffer landete, wurde ich zum guten Boten. Ich war der Fürst der Schnellen Kohle, der glücksbringende Geldsack, und ich liebte es, die Gesichter der Leute aufleuchten zu sehen, wenn ich ihnen die Scheine hinblätterte. Alles in allem war es kein unangenehmer Job, und bei der nächsten Beförderung tat es mir beinah leid, damit aufzuhören.
    Bingo versetzte mich vom Lotto zum Glücksspiel, und 1936 wurde ich Geschäftsführer eines gemütlichen, verräucherten Wettbüros in der Locust Street, das im Hinterzimmer einer chemischen Reinigung versteckt war. Die Kunden kamen mit ihren zerknitterten Hemden und Hosen, gaben sie vorne an der Theke ab und schoben sich dann an den Kleiderständern vorbei zu dem Geheimzimmer im Hintergrund. Fast jeder, der dort eintrat, machte den Witz vom letzten Hemd, das er nun hergeben müsse. Immer wieder bekamen die Männer, die für mich arbeiteten, diese lausige Bemerkung zu hören, und bald schlossen wir untereinander Wetten ab, wie viele Leute an einem bestimmten Tag damit herausrücken würden. Mein Buchhalter Waldo McNair hat mal gesagt: «Das hier ist der einzige Ort auf der Welt, wo dir gleichzeitig die Taschen geleert und die Hosen gebügelt werden. Setz ruhig dein Geld auf die Gäule, wir stehlen dir schon nicht dein Hemd.»
    Meine Geschäfte in diesem Hinterzimmer von Bennys Reinigung liefen ganz ordentlich. Es herrschte ständig Betrieb, doch ich heuerte einen Jungen an, der mir den Laden sauber hielt, und sorgte immer dafür, dass Kippen

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