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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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    Er war traurig wegen seines Ausbruchs. Er hätte so gern eine ähnlich enge Bindung zu Roger gehabt wie Nancy früher. Stattdessen gab es zwischen Roger und ihm jetzt, ohne seine Frau, dem über der Familie gespannten Bogen, kaum Gemeinsamkeiten. Wären die Blutsbande nicht gewesen, hätten Roger und er, das spürte er jetzt, praktisch keinen Grund gehabt, sich weiterhin gegenseitig über ihr Leben auf dem Laufenden zu halten. Er saß am Tisch und fühlte das Gewicht dieses Eingeständnisses auf seinen Schultern wie einen schweren, nassen Mantel. In seiner geschrumpften Welt, ohne Nancy, ohne Bertie, erschien es ihm todtraurig, dem eigenen Sohn so gleichgültig gegenüberzustehen.

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    Vierzehntes Kapitel
    U nd für was ist das Plastikding da?«, fragte George und gab dem Major eine Scheibe mit kompliziert ausgestanztem Muster, die zu dem Drachen gehörte, der extra für den Nachmittagsausflug angeschafft worden war.
    »Das gehört wahrscheinlich zur Verpackung«, sagte der Major. Da die Montageanleitung auf Chinesisch verfasst war, hatte er so gut wie möglich improvisiert. Der billige lila-grüne Drachen flatterte in seiner Hand. Er öffnete die primitive Arretierung und reichte George die Spule. »Willst du ihn jetzt fliegen lassen?«
    George nahm die Spule und begann, sich rückwärts gehend über das von den Kaninchen zerpflückte Gras vom Major zu entfernen. Der obere Teil der breiten Landzunge westlich der Stadt war an diesem schönen Sonntag das Ausflugsziel zahlreicher Familien. Die Stelle war gut geeignet zum Drachensteigen, allerdings weniger gut zum Spielen mit Bällen, die gerade in großer Zahl dort hinabrollten, wo das plötzlich steile Gelände auf der einen Seite zur Hügellandschaft des Weald, auf der anderen zum Rand der hohen Klippe hin abfiel. Schilder machten warnend darauf aufmerksam, dass die Klippenwand von Meer und Wetter ständig abgetragen wurde. Kleine Kreuze und verwelkte Blumensträuße zeugten auf geheimnisvolle Weise von den vielen Menschen, die sich Jahr für Jahr an dieser Stelle hinunterstürzten und auf den zerklüfteten Felsen unterhalb der Klippe zu Tode kamen. Offenbar glaubte jede, wirklich jede Mutter auf dem Gelände, ihren Kindern zurufen zu müssen, sie sollten sich von der Gefahrenzone fernhalten. Dieser Hintergrundchor war lauter als das Meer.
    »Eddie, weg vom Rand!«, brüllte eine Frau auf der Bank nebenan. Ihr Sohn rannte hinter einem kleinen Hund her und ruderte dabei windmühlenartig mit den Armen. »Eddie, ich warne dich!« Aber die Mühe, von der Bank aufzustehen, auf der sie mit dem Verzehr eines riesigen Sandwichs beschäftigt war, machte sie sich nicht.
    »Warum wollten die eigentlich unbedingt hierher, wenn sie solche Angst um ihre Kinder haben?«, fragte der Major und übergab den Drachen an Mrs. Ali, die einen neuen Startversuch wagen sollte. »Bist du bereit, George?«
    »Ja!« Mrs. Ali warf den Drachen in die Luft, wo er einige Sekunden lang flatternd schwebte, um dann zur größten Genugtuung des Majors in den Himmel aufzusteigen.
    »Famos!«, rief der Major, als George, rückwärts laufend, an der Spule drehte. »Mehr Leine, George, mehr Leine!«
    »Aber nicht zu weit weg, George«, rief Mrs. Ali plötzlich aufgeregt. Sofort schlug sie die Hand auf den Mund und sah den Major mit aufgerissenen Augen schuldbewusst an.
    »Nicht Sie jetzt auch noch!«, sagte der Major
    »Das muss ein Trick der Natur sein«, erwiderte sie lachend. »Das universelle Band zwischen allen Frauen und den Kindern in ihrer Obhut.«
    »Wohl eher eine universelle Hysterie«, wandte der Major ein. »Bis zum Klippenrand sind es ein paar hundert Meter.«
    »Fühlen Sie sich hier nicht auch immer ein wenig desorientiert?«, fragte Mrs. Ali und richtete den Blick über das weiche Gras hinweg auf die Kante des steil abfallenden Felsens. »Ich spüre fast, wie sich die ganze große Erde unter meinen Füßen dreht.«
    »Das ist die Kraft dieser Landschaft«, sagte der Major. »Genau das zieht die Menschen hierher.« Er betrachtete die grüne Klippe und das riesige Rund des Himmels und der See und griff zum passenden Zitat.
    »Frei von artiger Hecke, artigem Zaun,
    Halbwild und gänzlich zahm,
    Verhüllt der weise Rasen den weißen Klippensaum
    Wie als der Römer kam.«
    »Wahrscheinlich haben schon die Römerinnen ihren Kindern zugerufen, sie sollen vorsichtig sein«, sagte Mrs. Ali. »Ist das Kipling?«
    »Jawohl«, antwortete der Major und zog einen schmalen roten Lyrikband

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