Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Handtasche und zog einen dünnen, gefalteten, stark zerknitterten Umschlag hervor. Sie wandte sich dem Major zu und hielt ihm den Brief entgegen. Der Major nahm ihn ihr behutsam aus der Hand.
»Ein nicht abgeschickter Brief ist eine schwere Last«, sagte er.
»Ich fühle mich von Tag zu Tag beschwerter. Zu wissen, dass es so wie bisher nicht weitergeht, ist eine Bürde. Aber gleichzeitig fühle ich nun jeden Tag eine Leichtigkeit, die ich schon fast vergessen hatte.« Sie blickte zu George hinüber, der auf dem Gras kauerte und mit dem Jungen sprach, dem der kleine Hund gehörte. Der Welpe sprang den beiden Kindern unablässig an die Knie.
»Wie lange können Sie das unumgängliche Gespräch noch aufschieben?«
»Ich hatte gehofft, Sie würden mir versichern, dass ich es ewig aufschieben kann. Ich habe Angst, der Brief könnte alles zunichte machen.« Sie sah ihn an. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Meine liebe Mrs. Ali …«
»Ich habe Angst, dass mir alles genommen wird«, sagte sie leise. Der Major hätte den Brief am liebsten mit den Papptellern und der klebrigen Eisverpackung in den nächsten Abfallkorb geworfen.
»Wenn es nur möglich wäre, sie alle miteinander einfach zu ignorieren«, sagte er.
»Das geht nicht. Mein Neffe, der ja auch noch seine eigenen Zweifel besiegen muss, kann ohne den Segen seines Vaters nichts machen.« Sie nahm den Umschlag und stopfte ihn in die Handtasche. »Vielleicht sehen wir auf dem Heimweg einen Briefkasten.«
»Ich hoffe, Ihr Schreiben ruft eine freundlichere Reaktion hervor, als Sie denken.«
»Mein Glaube gestattet ja gelegentliche Wunder«, sagte Mrs. Ali. »Ich kann nur hoffen, dass sie einsehen, wie ungerecht sie waren. Andernfalls bin ich natürlich bereit, auf einer eher weltlichen Ebene zu verhandeln.«
»Eigentlich sollte man mit der eigenen Familie nicht feilschen müssen wie ein Gebrauchtwagenhändler.« Der Major seufzte. Er hatte in selbst eingestandener Feigheit zwei Anrufe von Marjorie ignoriert und dabei endlich den Nutzen der Anrufernummer auf dem Display seines Telefons erkannt. Ihm war klar, dass er die unvermeidliche Konfrontation wegen der Gewehre ebenso wenig länger aufschieben konnte, wie es der zarten Mrs. Ali möglich sein würde, den Zorn ihrer Verwandten abzuwenden.
»Irgendwer muss für George eintreten«, sagte sie. »Der Islam erlaubt es nicht, Kindern die Schande eines Elternteils aufzubürden. Er musste erleben, dass zum Begräbnis seiner Großmutter nur eine Handvoll Leute kamen. Das war eine große Schmach.«
»Schrecklich«, sagte der Major.
»Ich fürchte, die Familie meines Mannes hat diese Schmach noch vergrößert, indem sie bestimmte Unwahrheiten in Umlauf brachte. Aber das weiß Abdul Wahid, und deshalb wird er sich, denke ich, dafür entscheiden, alles wiedergutzumachen.«
»Man hat schon den Eindruck, dass er Amina und den Jungen gernhat«, sagte der Major.
»Ich bin froh, dass Sie das sagen. Ich hatte gehofft, Sie würden an meiner Stelle mit ihm reden. Ich glaube, er muss mal hören, wie ein Mann über die Sache denkt.«
»Das steht mir nun wirklich nicht zu«, wandte der Major ein. Die Vorstellung, über etwas so Intimes reden zu müssen, erschreckte ihn. Ein derartiges Thema hätte er nicht einmal seinem eigenen Sohn gegenüber ansprechen können, ganz zu schweigen von dem trotzigen, wortkargen jungen Mann, der zurzeit in seinem Gästezimmer wohnte.
»Sie verstehen doch das Prinzip von Ehre und Stolz aufgrund Ihrer militärischen Vergangenheit besser als die meisten anderen Männer«, sagte Mrs. Ali. »Ich bin letztendlich eine Frau und würde jeden Funken Stolz ablegen, um diesen kleinen Jungen bei mir behalten zu können. Und weil Abdul Wahid das weiß, bezweifelt er, dass ich seinen Standpunkt verstehe.«
»Mit dem Glauben, der hinter seinem Pflichtgefühl steckt, kenne ich mich nicht aus, deshalb könnte ich ihn nicht belehren«, sagte der Major, aber das warme Gefühl der Genugtuung über Mrs. Alis Kompliment ließ seinen Widerstand schmelzen.
»Ich bitte Sie nur, von Ehrenmann zu Ehrenmann mit ihm zu reden. Abdul Wahid ist immer noch dabei, seine Beziehung zum Glauben zu ergründen. Wir picken uns doch alle die Rosinen raus und fabrizieren unsere eigene Religion, oder nicht?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen die diversen Ayatollahs oder der Erzbischof von Canterbury in diesem Punkt zustimmen würden«, entgegnete der Major. »Sie haben da eine sehr unorthodoxe
Weitere Kostenlose Bücher