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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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aus der Tasche. »Es heißt ›Sussex‹, und ich hatte gehofft, es heute beim Tee gemeinsam mit Ihnen lesen zu können.«
    Sie hatte angerufen und die geplante Lektürestunde abgesagt, weil sie am Nachmittag etwas mit George unternehmen wollte. Der Major hatte sich geweigert, einen zweiten Sonntag lang enttäuscht zu sein, und zu seinem eigenen Erstaunen gefragt, ob er mitkommen dürfe.
    »Erstaunlich, dass wir es ursprünglich im Haus lesen wollten«, sagte Mrs. Ali. »Es hat so viel mehr Kraft hier, wo es entstand.«
    »Dann gehen wir doch am besten hinter Master George her, und ich lese Ihnen dabei den Rest vor.«
     
    Nach der Lektüre der Gedichte, als der Drachen mehrere Dutzend Mal in die Luft geworfen worden war und George vom vielen Laufen die Beine schmerzten, schlug der Major vor, einen Tee trinken zu gehen. Sie setzten sich mit ihrem Tee und einem Teller Gebäck an einen geschützten Tisch auf der Terrasse eines Pubs, der sich absurderweise mitten auf der Landspitze befand. Mrs. Alis Wangen waren warm vom Gehen, aber sie wirkte ein bisschen abgespannt. George schlang mit nur einem Bissen fast ein ganzes Teilchen hinunter und trank ein Glas ziemlich schaler Limonade; dann zog er los, um sich einen Hundewelpen anzusehen, der in der Nähe ausgeführt wurde.
    »Mein Neffe hat vorgeschlagen, dass wir hierherfahren«, erzählte Mrs. Ali. »Er geht immer nach der Moschee hier hinauf, weil er sich dann einbilden kann, Mekka läge gleich hinter dem Horizont.«
    »Da dürfte Frankreich im Weg sein.« Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete der Major den Horizont und versuchte, sich die genaue Position von Saudi-Arabien vorzustellen. »Aber auf einer spirituellen Ebene fühlt man sich am äußersten Ende des Landes immer näher bei Gott. Wahrscheinlich, weil man dort auf ernüchternde Weise an die eigene Winzigkeit gemahnt wird.«
    »Er wollte, dass George es mal sieht, darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich halte es für ein gutes Zeichen, meinen Sie nicht?« Der Major hätte es für ein besseres Zeichen gehalten, wenn der junge Mann George die Landschaft selbst gezeigt hätte, aber er wollte Mrs. Ali nicht den Nachmittag verderben.
    »Nochmals danke dafür, dass Sie meinen Neffen eine Weile bei sich beherbergen«, sagte sie. »Dadurch konnten George und Amina bei uns bleiben, und Abdul Wahid hat Gelegenheit, seinen Sohn kennenzulernen.«
    Der Major prüfte die Farbe des Tees und begann, unzufrieden in der Kanne zu rühren. »Zum Glück hat er nichts dagegen, dass Amina im Laden mithilft.«
    »Ein Laden ist etwas Merkwürdiges«, sagte Mrs. Ali. »Für mich war er immer ein winziger Freiraum in einer Welt voller Beschränkungen.«
    »Es steckt also mehr dahinter, als Eier zu verkaufen und auch an den Feiertagen zu arbeiten?«
    »Ein Ort der Kompromisse«, fügte sie hinzu. »Es lässt sich nur schwer in Worte fassen.«
    »Kompromisse basieren oft darauf, dass sie unausgesprochen bleiben«, sagte der Major. »Ich glaube, ich verstehe ganz genau, was Sie meinen.«
    »Mit meinem Neffen konnte ich nie darüber reden. Aber Ihnen verrate ich es: Ich setze alle meine Hoffnungen darauf, dass der Laden Abdul Wahid zeigt, was seine wahren Pflichten sind.«
    »Glauben Sie, dass er sie liebt?«, fragte der Major.
    »Ich weiß, dass sie einmal sehr ineinander verliebt waren. Und ich weiß, dass die Familie alles Erdenkliche getan hat, um sie auseinanderzubringen.«
    »Offenbar glaubt er, dass die Familie Ihres verstorbenen Mannes Amina nie akzeptieren wird – trotz des guten Dienstes, den Sie ihr erweisen.« Der Major begann, den Tee auszuschenken. Als Mrs. Ali ihm ihre Tasse hinhielt, stießen am Rand der Untertasse ihre Fingerspitzen aneinander, und den Major durchströmte ein Hochgefühl, das nur Glück sein konnte. Mrs. Ali schien seine Andeutung zu verunsichern; sie zögerte und antwortete erst, nachdem sie einen Schluck Tee getrunken und die Tasse vorsichtig auf das Tablett zurückgestellt hatte.
    »Ich glaube, ich war sehr egoistisch«, sagte sie.
    »Ich lasse nicht zu, dass Sie so etwas behaupten«, entgegnete der Major.
    »Aber es ist die Wahrheit. Ich habe Abdul Wahid gesagt, dass ich der Familie geschrieben habe – und ich habe auch wirklich geschrieben.« Wieder stockte sie. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aufs Meer. Als sie weitersprach, mied sie den Blick des Majors. »Aber dann hatte ich irgendwie immer so viel zu tun und habe den Brief nie abgeschickt.« Sie kramte in ihrer kleinen

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