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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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tot war. Er stellte sie sich in dem Himmel vor, von dem er in seiner Kindheit erfahren hatte: eine Art Wiese mit blauem Firmament und sanftem Wind. Mit etwas so Lächerlichem wie Flügel konnte er sich die Bewohner allerdings nicht mehr vorstellen. Stattdessen sah er Nancy in einem schlichten Etuikleid dahingehen, die flachen Schuhe in der Hand, von einem schattenspendenden Baum in der Ferne angelockt. Doch in der übrigen Zeit konnte er an diesem Bild nicht festhalten. Dann war sie einfach tot, so wie Bertie, und er musste allein weiterkämpfen im schrecklichen leeren Universum des Unglaubens.
    Silberne Teekanne, alte blaue Tassen, nichts zu essen. Erleichtert begutachtete der Major die abgeschlossenen Vorbereitungen. Das fehlende Essen sorgt für die passende Zwanglosigkeit, dachte er sich. Plötzlich kam ihm die jedes Detail erfassende Sorgfalt, die er an den Tag gelegt hatte, irgendwie unmännlich, und das übliche Servieren von Finger-Sandwiches anrüchig vor. Er seufzte. Auch das gehörte zu den Dingen, auf die er als alleinlebender Mensch achten musste. Es war wichtig, das Niveau zu halten, nicht nachlässig zu werden. Gleichzeitig gab es diese dünne Linie, deren Überschreitung die Gefahr in sich barg, weibisch jede kleinste Kleinigkeit wichtig zu nehmen. Er sah auf die Armbanduhr. Bis zum Eintreffen seines Gastes blieben noch mehrere Stunden. Er beschloss, sich mannhaft und auf die Schnelle handwerklich zu versuchen und die zerbrochene Zaunlatte hinten im Garten zu reparieren. Und danach würde er sich die Zeit nehmen, um einen gründlichen ersten Blick auf Berties Gewehr zu werfen.
     
    Schon seit mindestens zehn Minuten saß er in ein und derselben Körperhaltung in der Spülküche. Er wusste noch, dass er vom Garten ins Haus gegangen war und Berties Gewehr aus der Bettdecke ausgepackt hatte, aber dann waren seine Gedanken auf Wanderschaft gegangen, bis er, den Blick auf den alten Druck von Windsor Castle an der Wand gerichtet, in den braunen Wasserflecken des Bildes Bewegungen zu erkennen glaubte. Er blinzelte, und die Flecken auf dem getüpfelten Papier wurden wieder reglos. Er ermahnte sich, dass das Abschweifen in solche Momente stierer Greisenhaftigkeit seinem früheren Dienstgrad nicht angemessen sei. Er wollte nicht werden wie Colonel Preston. Dafür brachte er schlicht und einfach nicht das notwendige Interesse an Zimmerpflanzen auf.
    Zweimal im Monat, immer freitags, besuchte der Major seinen ehemaligen befehlshabenden Offizier Colonel Preston, der mittlerweile wegen einer Neuropathie der Beine im Rollstuhl saß und an Alzheimer litt. Colonel Preston pflegte Gespräche mit einem großen Topffarn namens Matilda zu führen, starrte genüsslich die Tapete an und entschuldigte sich bei Fliegen, wenn sie gegen geschlossene Fenster stießen. Nur seiner Frau Helena, einer entzückenden Polin, gelang es, einen Anflug von Normalität in ihm zu erwecken. Immer, wenn Helena ihn an der Schulter schüttelte, wandte sich der Colonel sofort dem jeweils anwesenden Besucher zu und sagte, als befände man sich gerade mitten im Gespräch: »Sie hat es in letzter Sekunde rausgeschafft, bevor der Russe kam. Hat die Unterlagen vertauscht, um die Heiratserlaubnis zu kriegen.« Helena schüttelte dann jedes Mal in gespielter Verzweiflung den Kopf, tätschelte die Hand des Colonels und sagte: »Ich habe im Wurstladen meines Vaters gearbeitet, aber in seiner Erinnerung bin ich Mata Hari.« Helena sorgte dafür, dass er immer frisch gebadet war, saubere Kleidung trug und seine zahlreichen Medikamente einnahm. Nach jedem Besuch schwor sich der Major, künftig mehr Gymnastik zu machen und Kreuzworträtsel zu lösen, um eine solche Schwächung des Gehirns hinauszuzögern, fragte sich aber gleichzeitig mit nicht geringer Sorge, wer ihm so gründlich den Nacken waschen würde, wenn er einmal außer Gefecht gesetzt wäre.
    Im trüben Licht der Spülküche straffte der Major seine Schultern und nahm sich vor, sämtliche Kunstdrucke im Haus nach Schäden abzusuchen und dann von einem kompetenten Restaurator ansehen zu lassen.
    Er wandte sich wieder Berties Gewehr auf der Küchentheke zu und beschloss, nicht noch mehr Zeit mit der Frage zu verschwenden, warum sein Bruder es all die Jahre hindurch vernachlässigt hatte und wie es zu verstehen sei, dass die Flinte auch dann noch ungeliebt in einem Schrank stand, als Bertie jedes finanzielle Angebot seines Bruders abgelehnt hatte. Stattdessen steckte er seine ganze Aufmerksamkeit in

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