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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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mein Neffe bei mir wohnt, habe ich kein eigenes Leben mehr. Deshalb ist der Traum von einem Cottage wieder erwacht.«
    »Mit dem Telefon stöbern sie einen sogar im eigenen Haus zu jeder Tages- und Nachtzeit auf«, sagte der Major. »Ich glaube, mein Sohn will mein Leben organisieren, weil es einfacher ist als sein eigenes. Es gibt ihm das Gefühl, etwas unter Kontrolle zu haben in einer Welt, die noch nicht bereit ist, ihm Verantwortung zu übertragen.«
    »Sehr scharfsinnig.« Mrs. Ali dachte kurz nach. »Und was unternehmen wir gegen dieses Verhalten?«
    »Ich spiele mit dem Gedanken, mich in ein stilles Cottage an einem geheimen Ort zu flüchten und ihm die Nachrichten über mein Wohlergehen in Form von Postkarten zukommen zu lassen, die via Australien verschickt werden.«
    Mrs. Ali lachte. »Dürfte ich mich Ihnen dann anschließen?«
    »Herzlich gern«, sagte der Major, und einen Augenblick lang sah er in Gedanken ein niedriges, strohgedecktes, hinter einem mit Ginster bewachsenen Hügel versteckt liegendes Cottage und einen schmalen, sichelförmigen Streifen Sandstrand voller Möwen. Der Rauch aus dem Schornstein kündete von einem duftenden Eintopfgericht, das auf dem Holzofen vor sich hin köchelte. Sie und er kamen gemächlich von einem langen Spaziergang zurück in ein von kleinen Lämpchen wohlig beleuchtetes Zimmer mit Büchern, dann ein Glas Wein am Küchentisch …
    Als er merkte, dass er schon wieder ins Träumen geraten war, richtete er seine Aufmerksamkeit rasch wieder auf das Wohnzimmer. Roger wurde immer ungeduldig, wenn er so ins Grübeln kam. Offenbar sah er darin ein Zeichen für eine frühe Form der Demenz. Der Major hoffte, dass Mrs. Ali es nicht mitbekommen hatte. Doch zu seiner Überraschung blickte sie aus dem Fenster, als wäre auch sie in angenehme Pläne versunken. Der Major saß da und erfreute sich eine Zeitlang an ihrem Profil – an der geraden Nase, dem kräftigen Kinn und den, wie er erst jetzt feststellte, zierlichen Ohren unter dem dicken Haar. Als hätte sie seinen Blick auf sich ruhen gefühlt, sah sie ihn wieder an.
    »Darf ich Sie jetzt zu einem ausführlichen Gartenrundgang bitten?«, fragte der Major.
     
    Die Blumenbeete wehrten sich gegen die Unordnung des Herbstes. Die Chrysanthemen standen noch aufrecht in Grüppchen aus Gold und Rot, aber die meisten Rosen waren nur mehr Hagebutten, und die Nelkenbüschel hingen bis auf den Weg hinaus wie bläuliches Haar. Nie hatten die vergilbenden Lilienblätter und die zurückgeschnittenen Stengel der Sonnenhüte trauriger ausgesehen.
    »Der Garten ist leider nicht im besten Zustand«, sagte der Major, während er Mrs. Ali folgte, die langsam auf dem Kiesweg dahinging.
    »Aber er ist doch wunderschön«, entgegnete sie. »Die violette Blüte dort an der Mauer sieht aus wie ein riesiger Edelstein.« Sie deutete auf eine späte Clematis, die ihre fünf, sechs letzten Blüten entfaltet hatte. Die Stengel erinnerten unschön an rostigen Draht, die Blätter waren trocken und eingerollt, aber die Blüten, groß wie Dessertteller, schimmerten gleich rotweinfarbenem Samt an der alten Ziegelmauer.
    »Alle unsere Clematispflanzen stammen von meiner Großmutter«, erklärte der Major. »Ich habe nie herausgefunden, wie diese hier heißt, aber es ist eine ziemlich seltene Sorte. Als sie noch im Vorgarten wuchs, sorgte sie für große Aufregung bei den vorbeikommenden Gartenbesitzern. Meine Mutter war sehr geduldig mit den Leuten, die einfach anklopften und um Ableger baten.«
    Kurz flackerte in ihm das Bild der langen Schere mit den grünen Griffen auf, die immer am Garderobenständer hing, und die Hand seiner Mutter, die danach griff. Er versuchte, sich auch den Rest von ihr vorzustellen, doch da verschwand sie.
    »Wie auch immer – die Zeiten änderten sich. Ende der siebziger Jahre mussten wir sie nach hinten verpflanzen. Wir hatten einen erwischt, der mit der Rosenschere in der Hand um Mitternacht im Garten herumschlich.«
    »Pflanzenraub?«
    »Ja, so etwas gab es damals ziemlich oft. War natürlich Ausdruck einer umfassenderen Kulturkrise. Meine Mutter schrieb die Schuld daran der Umstellung auf das Dezimalsystem zu.«
    »Ja, wenn man die Leute bittet, in Zehner- statt in Zwölferschritten zu rechnen, ist die Katastrophe fast unausweichlich, nicht wahr?«, sagte sie und lächelte ihn an. Dann wandte sie sich der hartschaligen Frucht zu, die an einem der knorrigen Apfelbäume hinten auf dem Rasen wuchs, und nahm sie näher in

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