Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Augenschein.
»Meine Frau hat mich auch immer ausgelacht«, sagte er. »Sie meinte, wenn ich meine Abneigung gegen Veränderungen beibehielte, liefe ich Gefahr, als Granitsäule wiedergeboren zu werden.«
»Bitte entschuldigen Sie – ich wollte Sie nicht kränken.«
»Sie haben mich in keiner Weise gekränkt. Es freut mich, dass wir bereits eine Ebene erreicht haben, die … eine Ebene der …« Er suchte nach dem richtigen Ausdruck, wobei er vor dem Wort »Intimität« zurückschreckte, als hätte es etwas Verschwitzt-Wollüstiges an sich. »Gewissermaßen eine Ebene, die das Maß der angenehmen Bekanntschaft übersteigt.«
Sie waren unten am Zaun angelangt. Der Major sah, dass einer der Nägel, die er für die Reparatur verwendet hatte, völlig verbogen war und den buchstäblich schlagenden Beweis für seine Unfähigkeit lieferte. Er hoffte, dass Mrs. Ali nur die Aussicht dahinter sehen würde: die als schmale Talmulde zwischen zwei Hügeln abfallende Schafweide mit dem dichten Eichenwäldchen am Ende. Mrs. Ali legte die Arme auf die dünne oberste Zaunlatte und betrachtete die Bäume, die im schwindenden Licht zu weichem Indigoblau verschmolzen. Das ungemähte Gras auf dem westlichen Hügel war bereits dunkel, während auf der östlichen Flanke die Halmspitzen gerade erst ihren Goldton verloren. Vom Boden stieg Dunst auf, und im Osten zog sich der Himmel zur nächtlichen Finsternis zusammen.
»Es ist so schön hier«, sagte sie nach einer Weile und stützte das Kinn in die Hand.
»Es ist nur ein kleiner Ausblick, aber ich werde es nie müde, abends hierherzukommen und zu sehen, wie die Sonne die Weiden verlässt.«
»Ich glaube nicht, dass die großartigsten Ausblicke der Welt so großartig sind wegen ihrer Weite oder Exotik«, sagte sie. »Ich glaube, ihre Ausstrahlung kommt durch das Wissen, dass sie sich nicht verändern. Man betrachtet sie und weiß, dass sie schon seit tausend Jahren so aussehen.«
»Aber wenn man sie einmal mit den Augen eines anderen betrachtet, ist es plötzlich wieder, als sähe man alles zum ersten Mal. Mit den Augen eines neuen Freundes beispielsweise.« Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an. Ihr Gesicht lag im Schatten. Einen Augenblick lang herrschte Stille zwischen ihnen.
»Es ist merkwürdig«, sagte sie schließlich, »wenn man plötzlich die Möglichkeit hat, eine neue Freundschaft zu schließen. In einem bestimmten Alter akzeptiert man ja allmählich, dass man nun alle Freunde hat, die einem zustehen, und man gewöhnt sich an diesen scheinbar unveränderlichen Freundeskreis, der dann aber immer kleiner wird – manche ziehen weit weg, führen ein geschäftiges Leben …«
»Und manche verlassen uns für immer«, fügte der Major mit gepresster Stimme hinzu. »Verdammt rücksichtslos, finde ich.« Mrs. Ali streckte die Hand aus, wie um ihn am Ärmel zu berühren, wendete die kleine Geste dann jedoch wieder ab. Der Major bohrte die Schuhspitze in die Erde des Blumenbeets, als hätte er eine Distel entdeckt.
Nach einer Weile sagte Mrs. Ali: »Ich gehe jetzt wohl besser. Fürs Erste zumindest.«
»Solange Sie mir versprechen, dass Sie wiederkommen«, entgegnete der Major. Sie richteten ihre Schritte zurück zum Haus. Langsam wich das Licht aus dem Garten. Mrs. Ali zog ihren Schal enger um die Schultern.
»Als Ahmed starb, merkte ich, dass es fast einsam geworden war um uns herum. Wir waren so sehr mit dem Laden beschäftigt gewesen und hatten unser Zusammensein so sehr genossen, dass wir unsere Freundschaften gar nicht mehr pflegten.«
»Ja, das schleicht sich so ein«, sagte der Major. »Ich allerdings hatte natürlich immer Bertie. Er war mir ein großer Trost.« Noch während er sprach, wurde ihm bewusst, wie sehr das stimmte. Auch wenn es abwegig schien angesichts der wenigen Zeit, die Bertie und er in den vergangenen Jahrzehnten miteinander verbracht hatten, war das Gefühl geblieben, einander noch genauso nah zu sein wie in der Kindheit, als sie, zwei Jungs mit immer schmutzigen Knien, hinter dem Gewächshaus miteinander rauften.
Ihm kam der Gedanke, dass er vielleicht Menschen umso gewogener war, je seltener er ihnen begegnete, und dass darin auch der Grund dafür lag, warum seine zahlreichen Bekannten ihm mit ihrer Anteilnahme derzeit so auf die Nerven fielen.
»Es ist ein Glück für Sie, so viele Freunde im Dorf zu haben«, sagte Mrs. Ali. »Darum beneide ich Sie.«
»Das ist wohl wahr.« Der Major öffnete das hohe Tor, das direkt in den Vorgarten
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