Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
für alles.«
»Aber ein heißes Bad könnte man damit hervorragend parfümieren. Sehr belebend.«
»Ein Bad?« Der Major suchte krampfhaft nach einer Bemerkung, die sich für ein zwangloses Gespräch über parfümiertes Badewasser eignete. Plötzlich verstand er, dass man sich unter der Kleidung nackt fühlen konnte. »Dann wäre man quasi ein menschlicher Teebeutel«, sagte er schließlich. Mrs. Ali lachte und warf das Blatt weg.
»Da haben Sie allerdings recht. Außerdem ist es wahnsinnig mühsam, die aufgeweichten Blätter hinterher aus dem Ausguss zu fischen.« Sie bückte sich und zupfte zwei helle Pfefferminzblätter ab.
»Gehen wir wieder rein und trinken unseren Tee, solange er frisch ist?«, fragte sie.
Der Major machte mit dem linken Arm eine Bewegung zum Haus hin.
»Haben Sie sich an der Hand verletzt?«, fragte Mrs. Ali.
»Nein, nein.« Hastig legte er die Hand an den Rücken. Er hatte gehofft, dass sie das hässliche, zwischen Daumen und Zeigefinger zusammengequetschte rosa Pflaster nicht sehen würde. »Ich habe mir nur bei Ausbesserungsarbeiten einen kleinen Schlag mit dem Hammer verpasst.«
Der Major schenkte Mrs. Ali und sich jeweils eine zweite Tasse Tee ein und hätte das Spätnachmittagslicht am liebsten irgendwie daran gehindert, weiter durch das Wohnzimmer zu wandern. Jeden Moment würden die goldenen Streifen die Bücherregale an der gegenüberliegenden Wand erreicht haben und Mrs. Ali zeigen, wie spät es geworden war. Dann, so befürchtete er, würde sie vielleicht mit dem Vorlesen aufhören.
Sie las mit leiser, klarer Stimme und erkennbarem Textverständnis. Er hatte fast schon vergessen, wie schön das Zuhören war. In den staubigen Jahren seiner Unterrichtstätigkeit an der privaten Grundschule St. Mark’s hatten seine Ohren die Empfindung dafür verloren, waren von den monotonen Stimmen der unverständigen Knaben zu schwingungslosen Stummeln abgeschmirgelt worden. Für sie hatte »Et tu, Brute« dasselbe emotionale Gewicht wie der Ausruf »Die Fahrkarten, bitte« des Fahrscheinkontrolleurs im Bus. Obwohl viele von ihnen einen schönen, sonoren Tonfall besaßen, strebten sie alle mit der gleichen Entschlossenheit danach, noch die kostbarsten Texte zu entstellen. Manchmal musste er sie bitten aufzuhören, was sie als Sieg über seine Spießigkeit ansahen. Als die Schule es erlaubte, Spielfilme in den Bibliographien von Literaturaufsätzen aufzuführen, hatte er noch im selben Jahr beschlossen, seinen Ruhestand anzutreten.
Mrs. Ali hatte viele Seiten mit winzig kleinen orangeroten Papierstreifen gekennzeichnet und sich, nach einigem Drängen seinerseits, dazu bereit erklärt, die Passagen, die sie interessierten, vorzulesen.
Noch nie hatte Kipling so gut geklungen, fand der Major. Sie zitierte gerade aus einer seiner Lieblingserzählungen, »Greise auf Pevensey«, die kurz nach der normannischen Eroberung spielte. Der Major hatte immer das Gefühl gehabt, dass diese Erzählung etwas Wichtiges über die Fundamente seines Landes zum Ausdruck brachte.
»›Ich denke nicht an mich‹«, zitierte sie den Ritter De Aquila, Herr über Pevensey Castle, »›noch an den König, noch an eure Lande. Ich denke an England, an das weder König denkt noch Baron. Bin nicht Normanne, Sir Richard, nicht Sachse, Sir Hugh. Engländer bin ich.‹«
Der Major trank hastig einen Schluck Tee und produzierte dabei unglückseligerweise ein lautes Schlürfen. Das war zwar peinlich, diente aber immerhin dem Zweck, den Ausruf »Hört, hört!« zu unterdrücken, mit dem er beinahe herausgeplatzt wäre. Mrs. Ali sah lächelnd von ihrem Buch auf.
»Kiplings Figuren sind immer so voller Idealismus!«, sagte sie. »Wie dieser Ritter, ganz grauhaarig und weltmännisch und doch so bestimmt in seiner Leidenschaft für das Land, in seinem Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Heimat. Wie ist das nur möglich?«
»Ist es möglich, das eigene Land ungeachtet jeglicher persönlicher Erwägungen zu lieben?«, fragte der Major. Er blickte zur Decke und dachte über die Antwort nach. Dabei bemerkte er in der Ecke zwischen dem Fenster und dem Vorzimmer einen blassen, aber alarmierend braunen Fleck, der eine Woche zuvor noch nicht da gewesen war. Einen Augenblick lang hielt sich sein Patriotismus die Waage mit akuten Sorgen um die Rohrleitungen.
»Ich weiß, die meisten Leute heutzutage würden eine solche Liebe zum eigenen Land als lächerlich romantisch und naiv bezeichnen«, sagte er. »Der Patriotismus wird
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