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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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runterziehen wollen«, sagte Amina und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe gelernt, den Unterschied zwischen Leuten zu erkennen, die einen wirklich verletzen können, und denen, die nur auf einen herabschauen wollen.«
    »Aber wenn sie so harmlos sind, warum muss man sie dann zur Rede stellen?« Der Major dachte wieder an die wütende Teedame am Meer.
    »Weil sie Rüpel sind, und ich bringe George bei, dass er sich Rüpelhaftigkeit nicht gefallen lassen soll – stimmt’s, George?«
    »Rüpel sind blöd«, bestätigte George, der auf der Rückbank saß. Das Scharren des Buntstifts auf dem Papier ließ erkennen, dass er immer noch vor sich hin kritzelte.
    »Die erwarten, dass man sich davonschleicht oder vor ihnen den Hut zieht oder was weiß ich«, sagte Amina. »Aber wenn man zurückspuckt, werden sie plötzlich ganz nervös. Wetten, dass Sie das noch nie probiert haben?«
    »Nein, so, wie ich erzogen wurde, steht bei mir die Höflichkeit an allererster Stelle«, antwortete der Major.
    »Sie sollten’s mal probieren. Ist manchmal richtig witzig.« In ihrer Stimme schwang ein matter Unterton mit, der den Major bezweifeln ließ, dass sie es wirklich so amüsant fand, wie sie behauptete.
    Eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin. Schließlich rutschte Amina auf ihrem Sitz ein wenig zur Seite und sah den Major an. »Sie haben nicht vor, mir Fragen wegen George zu stellen, oder?«, sagte sie leise.
    »Das geht mich überhaupt nichts an, junge Frau.« Er versuchte, jede Wertung aus seinem Tonfall zu verbannen.
    »Frauen fragen immer. Meine Tante Noreen kriegt schon Migräneattacken von den vielen empörten Damen, die bei ihr vorbeischauen und sie nach mir ausfragen.«
    »Schlimme Sache, eine Migräne«, sagte der Major.
    »Männer fragen nie, aber man weiß genau, dass sie sich im Kopf eine ganze Geschichte über George und mich zurechtgebastelt haben.« Sie wandte sich ab und legte ihre Finger an die Stelle des Beifahrerfensters, wo die Regentropfen quer über die Außenseite flossen. In einem ersten Impuls wollte der Major behaupten, dass er nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, aber dafür war sie einfach zu misstrauisch. Er überlegte, welchen ehrlichen Kommentar er abgeben könnte.
    »Ich will nicht für alle Männer oder Frauen im Allgemeinen sprechen«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Aber ich persönlich glaube, dass man sich heutzutage gegenseitig oft zu viel beichtet, so als würden die Probleme verschwinden, wenn man sie mitteilt. Stattdessen erhöht es nur die Anzahl der Menschen, die sich zu einem bestimmten Thema Gedanken machen müssen.« Er unterbrach sich, um ein schwieriges Abbiegemanöver von der stark befahrenen Landstraße nach rechts auf den schmalen Abkürzungsweg vorzunehmen. »Mir persönlich war nie daran gelegen, andere Menschen mit meiner Lebensgeschichte zu belasten, und ich bin auch nicht gewillt, mich in ihr Leben einzumischen.«
    »Aber Sie geben doch ständig Urteile über Menschen ab – und wenn Sie nicht die ganze Geschichte kennen …«
    »Junge Frau, wir zwei sind uns doch völlig fremd, nicht wahr? Natürlich fällen wir oberflächliche und wahrscheinlich sogar falsche Urteile übereinander. Ich bin mir beispielsweise sicher, dass Sie auch mich bereits als alten Penner etikettiert haben, oder nicht?« Sie schwieg, aber er glaubte, ein schuldbewusstes Schmunzeln zu erkennen.
    »Und mehr dürfen wir nicht voneinander fordern, finden Sie nicht auch?«, fuhr er fort. »Ich bin überzeugt, dass Ihr Leben kompliziert ist, aber ebenso überzeugt bin ich davon, dass mir die Motivation fehlt, um mir Gedanken darüber zu machen, und dass Sie nicht das Recht haben, es von mir zu verlangen.«
    »Ich finde, jeder hat es verdient, respektvoll behandelt zu werden.«
    »Na, da haben wir es doch!« Er schüttelte den Kopf. »Die jungen Leute fordern immer nur Respekt, anstatt ihn sich zu verdienen. Zu meiner Zeit war Respekt etwas, wonach man strebte. Etwas, das man bekam, nicht etwas, das man nahm.«
    »Wissen Sie, eigentlich müssten Sie wirklich ein alter Penner sein«, sagte sie leise lächelnd, »aber irgendwie mag ich Sie.«
    »Danke«, sagte er erstaunt und stellte ebenso überrascht fest, dass er sich freute. Diese kratzbürstige junge Frau hatte etwas an sich, das ihm gefiel. Sagen wollte er das aber nicht. Sie hätte es vielleicht als Aufforderung verstanden, ihm mehr über ihr Leben zu erzählen. Mit einiger Erleichterung hielt er vor Mrs. Alis Laden und ließ

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