Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Nachdem sie ihren Bewunderern entwischen konnte, kam Clarice an den Tisch und reichte Lydia ihren Schinken. Daraufhin eilte Mama davon, vermutlich um Big Earl, der mit Miss Thelma verschwunden war, zu berichten, dass man nun schon acht Schinken zählte. Clarice sah den Springbrunnen im Wohnzimmer und stöhnte. »Schau sich einer das an! Was diese Frau mit dem Haus hier angestellt hat, ist wirklich ein Verbrechen.« Dann enthielt sie sich aber weiterer Kommentare, denn ihre gute Kinderstube verbot es ihr, eine Anti-Minnie-Schimpftirade in deren eigenen Haus und eine Stunde, nachdem ihr Ehemann unter die Erde gebracht worden war, loszulassen.
Wir beluden unsere Teller und gesellten uns zu Barbara Jean, Lester und James ins Wohnzimmer. Als wir zu ihnen traten, beklagte sich Lester gerade, weil das blinkende Licht im Becken des Springbrunnens anfing, ihm Kopfschmerzen zu bereiten. »Vermutlich ist eine Birne locker. Es würde keine drei Sekunden dauern, das zu reparieren.« Ich rechnete damit, dass Barbara Jean Lester warnen würde, bloß nicht auf die Idee zu kommen, das Unterwasserlicht im Springbrunnen zu reparieren. Es sähe Lester ähnlich, in dem Becken herumzuplanschen und sich irgendwelche Bakterien einzufangen, die ihn dann für eine Woche ins Krankenhaus brächten.
Aber Barbara Jeans Blick war von etwas anderem gefangen. Sie starrte aus dem Panoramafenster auf die Gruppe, die sich draußen auf der Veranda um Minnie versammelt hatte. Irgendetwas, was sie dort sah, verursachte einen Gesichtsausdruck bei ihr, der eine Mischung aus Erstaunen und Schrecken zu sein schien. Einen Moment lang war ich mir sicher, dass ich nicht die einzige Person in diesem Raum war, die seit neuestem Geister sehen konnte. Langsam, als sei sie eine Marionette, die von Fäden hochgezogen wird, erhob sich Barbara Jean von ihrem Stuhl. In ihrem tranceartigen Zustand schien sie vergessen zu haben, dass sie einen Teller mit Essen auf dem Schoß hatte, und ich musste einen Satz nach vorne machen und mir den Teller schnappen, bevor er zu Boden rutschte.
Clarice sah, wie ich den Teller in der Luft auffing, und fragte: »Was ist los?«
Dann folgten wir Barbara Jeans Blick, und begriffen beide. In der Runde aus zimt- und mahagonifarbenen Gesichtern draußen auf der Veranda befand sich ein weißes Gesicht. Es war ein Gesicht, das ich kannte, eines, von dem ich nie gedacht hatte, es einmal wiederzusehen. Fast dreißig Jahre waren vergangen, seit Clarice und ich ihn zum letzten Mal zu Gesicht bekommen hatten, aber wir wussten beide sofort, dass es Chick Carlson war. Sein schwarzes Haar hatte graue Strähnen bekommen, und um die Taille herum war er etwas fülliger geworden. Aber er war auch noch fast ein Junge gewesen, als er Plainview verlassen hatte, also war das keine Überraschung. Selbst von meiner entfernten Position aus konnte ich das blasse Blau seiner Augen erkennen und sehen, dass er jetzt im mittleren Alter bloß die reife Version des schönen Jugendlichen war, den Clarice zum »König der hübschen weißen Jungs« erklärt hatte, an dem Tag im Jahre 1967, als wir ihn zum ersten Mal gesehen hatten. Barbara Jean und Chick hatten sich einmal innig und wahnsinnig geliebt, so wie nur junge Leute sich lieben konnten. Und diese Liebe hätte sie beide beinahe umgebracht.
Als Chick sich hinunterbeugte und Minnies Hand ergriff, um ihr sein Beileid auszusprechen, entfernte sich Barbara Jean, die ein wenig wacklig auf ihren hohen roten Schuhen stand, langsam von uns und ging hinüber zum Panoramafenster.
Dann nahmen die Dinge eine verrückte Wendung.
Ein lautes Geräusch zog aller Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine Art dumpfes »Wumpf«, wie das kurze, nachdrückliche Bellen eines großen Hundes. Danach folgte ein lauter Knall, und die Lichter gingen aus. Es war noch mitten am Nachmittag, und es fiel noch genug Licht durch die Fenster herein, aber die plötzliche Düsternis ließ die Leute nach Luft schnappen. Dann folgten ein dumpfes Dröhnen, noch ein bellender Laut und ein Platschen.
Nun stand Lester neben mir. Sein bester schwarzer Beerdigungsanzug war triefnass und seine Ärmel hochgekrempelt. Er sagte: »Ich hab bloß versucht, diese verflixte Lampe im Springbrunnen zu reparieren.« Er sah an sich herab, und Wasser tropfte von ihm hinunter auf den Teppich. »Fürchte, ich bin hineingefallen.«
Er hielt mir seine rechte Hand vor die Nase. Seine Fingerspitzen schienen versengt zu sein. »Die Hand hab ich mir auch verletzt. Es muss einen
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