Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Kurzschluss gegeben haben.«
Mama kam zu uns und stellte sich zwischen mich und Lester. Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen und sagte direkt zu Mama: »Dora, bist du das?«
»Hallo, Lester«, begrüßte ihn Mama, »schön dich wiederzusehen.«
Ich sagte: »Oh Mist.«
Dann gesellten sich auch Miss Thelma, Big Earl und Mrs Roosevelt zu uns. Miss Thelma reichte Mama einen brennenden Joint, die ihn wiederum Lester anbot. »Nimm ’nen Zug, Schätzchen. Du wirst sehen, in ein paar Minuten wird das für dich alles einen Sinn ergeben.«
Lester, dessen Anzug innerhalb der letzten paar Sekunden vollkommen getrocknet war, wirkte noch immer verunsichert über das Geschehene. Aber er sagte: »Ja, ich denke, das ist eine gute Idee«, und nahm den Joint von Mama entgegen.
Jemand rief: »Barbara Jean!«, und sie drehte sich dort, wo sie stand, nur ein paar Schritte vom Vorderfenster entfernt, um. Die Menge teilte sich zwischen Barbara Jean und der Zimmerecke, in der der Springbrunnen stand. Nun erblickten wir beide, sie und ich, was die meisten Leute im Raum bereits gesehen hatten. Lester lag am Boden, halb im und halb außerhalb des nun erloschenen Springbrunnens – und auf ihm lagen die beiden Marmorstatuen.
Barbara Jean rannte zu Lester hinüber, während Richmond die großen Statuen packte und zur Seite beförderte, als wären sie aus Watte statt aus massivem Stein. James rief, jemand solle einen Notarzt rufen, und begann sofort mit der Herz-Lungen-Massage. Ich wusste, dass es zu spät war. Lester – der echte Lester, nicht die tropfnasse Hülle, die da von meinem wohlmeinenden Ehemann durchgeknetet wurde – schüttelte bereits Eleanor Roosevelts Hand und teilte ihr mit, wie sehr er ihre Arbeit immer geschätzt habe.
Mama wandte sich an mich und sagte: »Ich muss sagen, das überrascht mich jetzt.«
Niemand beachtete mich, also antwortete ich ihr laut. »Wieso, du hast doch gesagt, dass Mrs Roosevelt ein Talent dafür hat, zu erkennen, wer bald stirbt.«
»Ach, nicht das. Ich wusste die ganze Zeit, dass sie damit recht hatte. Ich bin bloß immer davon ausgegangen, dass es Richmond sein würde, der unter zwei nackten, weißen Mädchen umkommt.« Dann trollte sich Mama, die offenbar nicht besonders an dem Spektakel interessiert war, das sich dort am Fuße des Springbrunnens abspielte.
Ich ging zu meinen Freunden hinüber. Clarice hatte die Arme um Barbara Jean gelegt, und beide saßen am Boden. Ich kniete mich neben sie und nahm Barbara Jeans Hand. Sie starrte Lesters Körper an, der unter James’ vergeblichen Bemühungen erschüttert wurde. Barbara Jean schüttelte langsam den Kopf und sagte mit der sanften Stimme einer Mutter, die ein unartiges, aber viel geliebtes Kind schilt: »Ich kann dich nicht aus den Augen lassen, oder? Nicht für zwei Sekunden.«
9
Clarice und Odette quartierten sich direkt nach Lesters Tod bei Barbara Jean ein. Für die letzten Julitage und bis weit in den August hinein sorgten sie dafür, dass sie sich anzog und jeden Tag etwas zu sich nahm. Die ersten Nächte schliefen sie zu beiden Seiten neben ihr im Bett. Nicht dass Barbara Jean viel schlief. Sie hörten sie jede Nacht aus dem Zimmer schleichen und die Treppe hinuntergehen, wo sie dann stundenlang allein in der Bibliothek hockte. Erst kurz vor Sonnenaufgang kam sie wieder zurück ins Bett und behauptete dann später, sie hätte die ganze Nacht durchgeschlafen.
Barbara Jean sprach kaum noch. Und wenn sie doch einmal etwas sagte, dann verlor sie kein Wort über Lester. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, im Haus auf und ab zu gehen und hin und wieder stehenzubleiben, um den Kopf zu schütteln wie ein Schlafender, der versucht aus einem Albtraum aufzuwachen. Sie war nicht in der Verfassung, allein gelassen zu werden oder irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Und es gab so vieles, was erledigt werden musste.
Clarice und Odette waren überrascht, dass die einzige Vorkehrung für Lesters Tod, obwohl er bereits seit Jahren mit den verschiedensten, beinahe tödlich verlaufenden Krankheiten zu kämpfen gehabt hatte, in einem kurzen Testament bestand, in dem er alles Barbara Jean hinterließ.
Also organisierte Clarice den Trauergottesdienst und die Beerdigung, während Odette sich um Barbara Jean kümmerte. Clarice übernahm die gesamte Planung, von Lesters Totenanzug bis hin zum Leichenschmaus. Sie erledigte alles mit einem liebenswürdigen Lächeln und schluckte ihren Unwillen auch dann hinunter, wenn sie mit dem Pastor und
Weitere Kostenlose Bücher