Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
den höheren Tieren der First-Baptist-Kirche zu tun hatte – eine stockvornehme Gesellschaft, von der allesamt erpicht darauf waren, der Witwe zu demonstrieren, wie sehr sie den Verstorbenen doch geschätzt hatten. Es war nicht immer einfach, sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen, doch alle Anzeichen eines inneren Konflikts zu verbergen und sicherzustellen, dass alles glattlief und ganz exakt so aussah, wie es sollte, war eben das, wozu Clarice erzogen worden war. Und Clarice war gern bereit, ihre einzigartigen Fähigkeiten, die sie sich durch beträchtliche persönliche Opfer angeeignet hatte, einzusetzen, um ihrer Freundin zu helfen.
Wenn ein reicher Mann stirbt, sind die Geier nicht weit. Und Lester war wohlhabender gewesen, als irgendwer vermutet hatte. Er war für Plainviewer Verhältnisse bereits reich gewesen, als er Barbara Jean den Hof machte. Er wurde reich für Louisviller Verhältnisse, kurz nachdem sie geheiratet hatten. Und nun stellte man fest, dass er als ein Mann gestorben war, der sogar für Chicagoer Verhältnisse reich und für New Yorker Verhältnisse ganz passabel aufgestellt gewesen war. Lang bevor die erste Schaufel Erde auf Lesters Sargdeckel landete, klopften auch schon die besonders habgierigen seiner Verwandten an Barbara Jeans Tür und baten um Zuwendungen. Eine bis dato völlig unbekannte Cousine behauptete gar, Lester hätte ihr zugesagt, ihre Hawaiireise zu finanzieren. Eine Großnichte wollte Barbara Jean für eine »todsichere Geschäftsidee« begeistern, die lediglich »ein wenig Anschubfinanzierung« benötige. Mehrere männliche Bekannte von Lester kamen, in Old Spice gebadet, vorbei, und boten der trauernden Witwe bereitwillig Hilfe und ihre breiten Schultern zum Ausweinen an.
Genau für diese Art von Situation, so dachte sich Clarice, hatte Gott Odette geschaffen. Denn wenn sich Odettes Mundwinkel nach unten neigten und ihre Augen ganz schmal wurden, wollte keiner miterleben, was dann passieren konnte. Sie wachte über Barbara Jean und schlug mit nur einem Blick alle in die Flucht, die eine mögliche Gefahr für ihre Freundin darstellen mochten. Und das alles, während sie selbst mit Hitzewallungen zu kämpfen hatte, die ihr immer noch fast jede Nacht den Schlaf raubten.
Die Supremes wohnten drei Wochen lang bei Barbara Jean. Odette verbrachte tagsüber immer Zeit mit James, kam aber jedes Mal zurück, um nachts bei Barbara Jean zu sein. Clarice sah in der ersten Woche ein paar Mal bei Richmond nach dem Rechten, denn sie wollte für ihn kochen und kontrollieren, wie es um seinen Diabetes stand. Doch als sie ihn auch beim fünften Mal weder zu Hause antraf, noch ein Zeichen dafür entdecken konnte, dass er überhaupt einmal nach Hause gekommen war, seit sie bei Barbara Jean war, fragte sie sich, warum sie sich das antat. Eine überzeugende Antwort fiel ihr aber nicht ein. Also sorgte Clarice an diesem Tag dafür, dass sich in der Gefriertruhe genug Essen für einen Monat befand, und hinterließ Richmond einen Zettel, auf dem stand, dass sie wiederkäme, wenn es Barbara Jean besser gehe. Die nächsten zwei Wochen blieb sie weg und beschränkte ihre Kontaktaufnahme mit Richmond auf einen Telefonanruf täglich, der jedoch immer unbeantwortet blieb.
Am Morgen nachdem sie die vorübergehende Unabhängigkeit von Richmond erklärt hatte, setzte sich Clarice nach dem Frühstück in Barbara Jeans Wohnzimmer ans Klavier. Das Klavier war ein viktorianisches Prachtstück mit einem Gehäuse aus Rosenholz. Clarice selbst hatte es im Zuge der Renovierung von Barbara Jeans Haus damals bestellt. Es war ein edles Instrument, und Clarice bedauerte, dass seine derzeitige Funktion rein dekorativer Art war. Sie ließ den Finger erst über die weißen Tasten gleiten und dann über die schwarzen und freute sich, als sie feststellte, dass es gestimmt war. Sie fing an zu spielen.
Die Musik lockte Barbara Jean ins Zimmer, dicht gefolgt von Odette. Sie lauschten und applaudierten ihr dann, als sie das Stück beendete. »Das war schön«, sagte Barbara Jean. »Irgendwie glücklich und traurig zugleich.«
»Chopin. Eignet sich perfekt für jede Gelegenheit«, sagte Clarice.
Barbara Jean stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Klavier ab. »Erinnerst du dich noch, wie Adam dich immer nachgemacht hat?«
»Natürlich erinnere ich mich«, sagte Clarice gespielt beleidigt und verzog den Mund.
Barbara Jean drehte sich zu Odette. »Adam hat nach seinen Klavierstunden immer die besten
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