Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
die aus irgendeinem Ramschladen stammte, mit gelben Strasssteinen ums Zifferblatt und einem rissigen weißen Lacklederband. »Vondell schläft wahrscheinlich in ein paar Stunden. Dann kann ich wieder zurückgehen.« Zu Odette meinte sie noch: »Sag deiner Mutter danke für das Hühnchen. Das war echt nett von ihr.«
Doch Odette hakte sich bei Barbara Jean ein und sagte: »Wenn du spazieren gehst, kannst du genauso gut mit uns gehen. Dann kannst du auch das neueste Opfer kennenlernen, das Clarices Freund vom College hergeschleppt hat, um mich abzulenken, während er versucht, ihr an die Wäsche zu gehen.«
»Odette!«, kreischte Clarice.
Odette sagte: »Ist doch wahr, und das weißt du auch.« Dann zog sie Barbara Jean in Richtung All-You-Can-Eat mit sich. »Ach, und Barbara Jean, was auch geschieht, iss nichts von Mamas Hühnchen.«
Wenn ihre Mutter oder ihre Cousine Clarice später fragten, warum sie sich in jenem Sommer mit Barbara Jean angefreundet hatten, antwortete sie, das liege daran, dass sie Barbara Jeans liebenswerte Seite und ihren Sinn für Humor kennen- und schätzen gelernt habe. Und dass sich in ihr christliches Mitgefühl geregt hätte, nachdem sie einen tieferen Einblick in die Schwierigkeiten in Barbara Jeans Leben – ihre verstorbene Mutter, die schreckliche Nachbarschaft, ihr trauriges kleines Loch von einem Zimmer, dieser Mann, Vondell – bekommen hatte. Und eines Tages würden diese Dinge auch der Wahrheit entsprechen. Binnen weniger Monate mussten Clarices Mutter und ihre Cousine feststellen, dass jede spitze Kritik oder harsche Verurteilung von Barbara Jean auf eisiges Schweigen oder eine untypisch unverblümte Zurechtweisung von Clarice stieß. Und eines Tages gestand Clarice Odette, dass sie enorme Schuldgefühle hege, weil sie früher selbst die Quelle vieler Gerüchte über Barbara Jean gewesen war. Es mochte zwar ihre Cousine gewesen sein, die das Gerücht über die Kakerlake in Barbara Jeans Haaren in Umlauf gebracht hatte, aber Clarice war dafür verantwortlich, dass es sich auch verbreitete.
Aber selbst zu dieser Zeit, als ihr von ihrem Gewissen die edleren Gründe für ihre Freundschaft mit Barbara Jean eingeflüstert wurden, wusste sie tief im Inneren, dass mehr dahintersteckte. Mit siebzehn war Clarice noch nicht in der Lage, das wahre Ausmaß der Selbstsucht zu erkennen, von der sie sich in sklavischer Ergebenheit leiten ließ. Aber sie begriff schon damals, dass der primäre Grund für ihre Freundschaft mit Barbara Jean der war, dass sie selbst davon profitierte. Denn an dem Abend, als sie und Odette das ekelhaft riechende Hühnchen abgeliefert hatten, stellte Clarice fest, dass Barbara Jeans Gegenwart sich überraschend günstig auf ihr Leben auswirkte.
Als Clarice, Odette und Barbara Jean ins All-You-Can-Eat kamen, führte sie Little Earl zum ersten Mal zu dem begehrten Tisch am Fenster. Dort saß bereits eine Gruppe seiner Kumpel, aber er scheuchte sie weg und sagte: »Macht Platz. Dieser Tisch ist für die Supremes reserviert.« Danach kam jeder Junge, selbst diejenigen, die die haarsträubendsten Lügen über Barbara Jean erzählt hatten, darüber, was sie angeblich mit ihnen gemacht habe, zum Tisch am Fenster und gaben stotternd und stammelnd ihre besten jugendlichen Anmachsprüche zum Besten.
Ein paar Minuten nachdem die Mädchen sich hingesetzt hatten, tauchte Richmond mit James Henry im Schlepptau auf. Clarice vermerkte sich in Gedanken, Richmond später die Hölle heiß zu machen, weil er ihn mitgebracht hatte. James war der schlimmste von den Kerlen, die Richmond normalerweise für Odette anschleppte. Er war zwar ganz nett, und er mochte Odette, seit sie mit zehn zwei Halbwüchsige vermöbelt hatte, die ihn aufgrund seiner hässlichen Schnittwunde im Gesicht »Frankenstein« geschimpft hatten. Aber Clarice fand, er war der langweiligste Junge auf der Welt. Er redete kaum. Und wenn er es doch tat, war der Versuch kläglich.
Das einzige Thema, über das sich James mit Odette länger unterhalten konnte, war der Garten ihrer Mutter. Er arbeitete für Lester Maxberrys Rasenpflegeunternehmen, und so kam er zu ihren Verabredungen immer mit hilfreichen Tipps, die Odette an Mrs Jackson weitergeben konnte. James war der einzige Junge, den Clarice kannte, der mit einem Mädchen auf dem Rücksitz eines am Rande einer dunklen Straße geparkten Autos sitzen und mit ihr über nichts anderes als Kompostdünger sprechen konnte.
Und das Schlimmste war, dass James immer müde
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