Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
während er im Detail aufzählte, was in meinem Körper vor sich ging und was zu tun war, um es zu stoppen. Der nächste Schritt, meinte er, bestehe nun darin, eine zweite ärztliche Meinung einzuholen. Er hatte für mich bereits einen Termin bei einem Onkologen an der Universitätsklinik ausgemacht, der zu den »Koryphäen auf seinem Gebiet« zählte. Er verwendete Begriffe wie »fünfjährige Überlebenschance« und »gutverträglichen Chemotherapiezyklen«. Er tat mir richtig leid. Er versuchte so sehr, gelassen zu bleiben, dass seine Stimme sich gleichzeitig roboterhaft und voller unterdrückter Emotionen anhörte, wie bei einem schlechten Schauspieler aus einer Vorabendserie.
Nachdem er seine Rede abgeschlossen hatte, stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, als wäre er stolz auf sich, diese große Hürde genommen zu haben. Als er wieder in der Lage war, mich anzusehen, fing er an, mir eine optimistische Prognose zu geben. Er sagte: »Dein grundsätzlicher Gesundheitszustand ist sehr gut. Und wir wissen sehr viel über diese Art von Krebs.« Er fuhr fort, ich könne Glück haben. Vielleicht sei ich einer der wenigen Menschen, die ohne große Nebenwirkungen durch die Chemotherapie schipperten.
Seine Worte sollten mich trösten, und ich wusste sie zu schätzen. Aber ein Teil meiner Gedanken hatte bereits sein Büro verlassen. In meinem Kopf sagte ich meinen verängstigten Kindern, sie sollen sich keine Sorgen um mich machen. Sie waren zwar alle erwachsen und lebten überall im Land verstreut, aber sie brauchten ab und zu trotzdem den Rat ihrer Eltern. Denise war eine junge Mutter, die noch immer erfüllt war von Angst und Sorge über jede Entwicklungsstufe ihrer Kinder, die den Ratgeber, von dem sie gehofft hatte, er bringe Ordnung in ihr Dasein als Mutter, ad absurdum führte. Jimmy und seine Frau waren darauf versessen, Karriere zu machen, und würden sich noch zu Tode arbeiten, wenn ich sie mit meinem Genörgel nicht von Zeit zu Zeit zu einem kleinen Urlaub bewegen würde. Und Eric, der war genauso schweigsam wie sein Vater, und niemand außer mir, die ihn schon mehr als einmal am Telefon über eine verflossene Liebe hatte weinen hören, wusste, dass er wesentlich emotionaler war als seine beiden Geschwister.
Von dem Moment, in dem ich den Supremes sagen würde, dass ich krank war, würde Clarice versuchen, das Regiment über mein Leben an sich zu reißen. Erst würde sie die Regie über meine medizinische Behandlung übernehmen wollen. Dann würde sie mir den allerletzten Nerv rauben, weil sie mich zur Krankensalbung und derlei mehr in ihre Kirche schleifen wollen würde. Und Barbara Jean würde einfach ganz still sein und akzeptieren, dass ich so gut wie tot war. Sie bereits im Voraus um mich trauern zu sehen würde in mir die Erinnerung daran wecken, was sie in ihrem Leben schon alles verloren hatte, und mich höllisch deprimieren.
Mein Bruder war, obwohl auch er von meiner Mutter großgezogen wurde, zu einem Mann herangewachsen, der glaubte, Frauen seien hilflose Opfer ihrer Emotionen und Hormone. Wenn er herausfände, dass ich krank war, würde er mit mir reden, als sei ich ein Kind, und mir furchtbar auf den Geist gehen, wie früher, als wir noch klein waren.
Und James. Ich musste an den Ausdruck in James’ Gesicht denken, in diesem schrecklichen grau-gelben Licht der Notaufnahme, immer wenn einer unserer Sprösslinge an einer Kinderkrankheit litt. Der geringste Schmerz seiner Kinder brachte ihn schier zur Verzweiflung. Immer wenn ich eine Erkältung oder Fieber hatte, wich er nicht von meiner Seite, ausgerüstet mit einem Thermometer, Medizin und die gesamte Dauer meiner Krankheit über mit einem qualvollen Gesicht. Es war so, als hätte sich all die Liebe und Fürsorge in ihm aufgestaut, die sein Vater ihm und seiner Mutter vorenthalten hatte, und als wäre er entschlossen, mich und die Kinder nun zehnfach damit zu überschütten.
Also fasste ich den Entschluss, dass ich die ganze Sache so lang wie möglich für mich behalten würde. Schließlich bestand immer noch eine minimale Chance, dass alles bloß falscher Alarm war, oder etwa nicht? Und wenn die Chemo tatsächlich gut verträglich war, dann könnte ich es allen ja noch bei passender Gelegenheit erzählen. Wenn ich Glück hatte, könnte ich mich in fünf oder sechs Monaten an einem Sonntag im All-You-Can-Eat an James und meine Freunde wenden und sagen: »Hey, habe ich euch allen
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