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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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Nach einer Stunde sahen wir das Dorf mit der Kirche aus Feldsteinen. Wir waren da. Ein Haus mit Veranda und zwei lange Stallgebäude bildeten mit einer Scheune einen fast quadratischen Hof. Hinter dem Haus lag sogar ein kleiner Park mit Birken und Linden und Wacholderbüschen. In einer schattigen Ecke dämmerte auf einem Steinsockel ein Kunstwerk aus braunem glasierten Ton: ein zottiger Faun presste eine Nymphe, die ihm entfliehen wollte, an sich und hielt sie mit beiden Händen an den Hinterbacken. Unter dieser Gruppe lud eine weiße Gartenbank zur Rast ein.
    Tante Anna, Onkel Willis Frau, erwartete uns auf der Treppe.
    »Habt ihr Zentrifugen mit?«, rief sie laut.
    »Verdammt«, sagte Onkel Willi. »Wirst du wohl ruhig sein!«
    Tante Anna war rund und gemütlich. Genau wie Großmutter trug sie einen Mittelscheitel und einen Dutt und eine schwarzrandige Brille mit kreisrunden Gläsern. Aus dem Flur kamen Jagdhunde angetrottet, um uns zu beschnuppern. Wir stiegen hinter Tante Anna die Treppe hinauf.
    Später, am Kaffeetisch, war die Familie fast vollständig versammelt. Wir wussten, es gab zwei Töchter, aber wir sahen nur eine, Johanna, die ältere. Die beiden Söhne, Ziethen und Blücher genannt, trugen feldgraue Hosen. Sie waren auf Ernteurlaub, wie Ede vermutet hatte. Frankreich war so gut wie erledigt. Da brauchte man sie nicht mehr.
    Die Türen zur Veranda standen offen. Vom Hof hörte man Geräusche. Die Fliegen krochen träge über den Streuselkuchen. Dann gingen wir mit Ziethen und Blücher zum See hinunter. Mit einem Korb am Arm kam uns ein wunderschönes Mädchen entgegen. Es war Ingeborg, die andere Tochter. Sie hatte Schnürstiefel an mit wadenhohen Schäften. Wir verliebten uns beide in sie.
    Der lange Hausflur war dunkel und kühl. Auf den schwarzen und weißen Fliesen lagen alte Pferdedecken für die Jagdhunde, unter einer Reihe von Kleiderhaken, an denen die Schrotflinten hingen. Oben, auf dem Hutbrett, standen aufrecht die Schrotpatronen mit farbigen Papphülsen. Auf dem See gab es viele Enten und Wasserhühner. Tante Anna zeigte uns unser Zimmer, im Giebel gelegen, mit Blick auf den Park und den Faun mit der Nymphe. Dicht am Haus wuchs eine Birke. Vom Fenster aus konnten wir ihre Äste mit den Händen erreichen.
    Als Tante Anna gegangen war, untersuchten Werner und ich den Dachboden, der an das Zimmer grenzte. Eine dicke Tür an einem seitlichen Verschlag fiel uns auf. Wir öffneten sie. Es war die Räucherkammer. »Mensch, Würste«, sagte ich. Da hingen sie, Seite an Seite. Große lange dicke rote Würste. Riesig. Dahinter, in der zweiten Reihe, Schinken. »Mir ist wohl, rabumm!«, sagte Werner. »Mir ist nicht bange«, sagte ich. »Trotzdem«, sagte Werner, »musst du die ältere nehmen. Ingeborgs Schwester. Johanna. Ich kriege Ingeborg.«
    Werner versuchte, sie zu verteilen. Der Fehler warnur, dass wir beide Ingeborg wollten. Ingeborg mit ihren Schnürstiefelchen, mit dem dunklen Haar, das wie gelackt aussah, Ingeborg mit ihren kühlen Augen und dem roten Mund, den sie, hier auf dem Land, und obwohl sie ein deutsches Mädchen war und Tochter des Ortsbauernführers dazu, leicht schminkte.
    Wir klappten die Tür zum Würsteparadies leise wieder zu. Und dann hatten wir unseren ersten Krach, Rabumm und ich, unter dem Dach, das glühte von der Hitze. Ein Ergebnis hatte dieser Krach nicht. Es blieb dabei: Wir beide wollten Ingeborg.
    Die alte Fuckruschen gab Handarbeitsunterricht in der Dorfschule, aber die Kinder mochten sie nicht. Nicht nur, weil sie einen Buckel hatte und rote Haare und rote Augen vom Trinken. Die Fuckruschen war die Spökenkiekerin des Dorfes. Sie wusste alles Unheimliche, was sich im Dorf und in der Gegend abspielte oder in den letzten paar Hundert Jahren abgespielt hatte.
    Sie lebte in einem halb verfallenen Haus gegenüber dem Friedhof. Die eine Innenwand ihres Zimmers, in dem es muffelig nach alten Teppichen und Franzbranntwein roch, spaltete ein langer Riss, der die kümmerliche Kate so in Einsturzgefahr gebracht hatte, dass sie außen durch einen schrägen Balken gestützt werden musste. Die Fuckruschen versperrte die Tür zu diesem Rest einer menschlichen Behausung mit einem etwa pfundschweren Schlüssel. Diesen Schlüssel trug sie immer mit sich herum, benutzte ihn auch zuweilen, in der Handarbeitsstunde, als Waffe gegen ungezogene Kinder. Sicher wehrten sie sich gegen das Unheimliche, das von der Fuckruschen ausging, besonders, wenn sie einen mit ihren roten Augen durch

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