Mucksmäuschentot
Schneckenspur, die die Leiche hinterlassen hatte, zu entfernen. Beim Anblick der offenen Tür wurde mir plötzlich unbehaglich.
Wenn wir den Einbrecher nun nicht getötet, sondern nur verwundet hatten? Wenn er sich in ebendiesem Moment über den Rasen zum Haus schleppte?
Ich rannte hin, schlug sie zu und schob den Riegel vor, wobei ich mich gleichzeitig schämte, diesen kindlichen Ängsten nachzugeben. Doch mir fehlte die Kraft, ihnen zu widerstehen.
Im Esszimmer und Wohnzimmer hatte Mum ähnliche Wunder gewirkt. Das zerrissene Seil war vom Boden verschwunden. Die Stühle standen an Ort und Stelle. Meine Flöte lag in ihrem Kasten, die
Russischen Volkslieder
im Fach des Hockers, und der Klavierdeckel war geschlossen. Den Inhalt des Sideboards und des antiken Sekretärs hatte sie sorgsam aufgehoben und zurück in die Schubladen gepackt. Die Duftmischung war zusammengefegt worden und lag wieder in der hölzernen Schale auf dem Sideboard. Alle Scherben der zerbrochenen Vase waren verschwunden, und ihr Zwilling aus der Vitrine auf dem Treppenabsatz enthielt nun die violetten Trockenblumen. Alle Dekogegenstände waren genau dort, wo sie sich befunden hatten, als ich gestern Abend um zehn ins Bett gegangen war. Wie durch ein Wunder hatten sie die grobe Behandlung durch den Eindringling unbeschadet überstanden – bis auf das winzige strohgedeckte Häuschen, dessen Schornstein abgebrochen war.
Mum hatte alle Geburtstagskarten wieder auf das Sideboard gestellt und ihre eigene hinzugefügt. Sie zeigte eine rosafarbene Rose mit Tautropfen auf den Blütenblättern und die Aufschrift »Für einen ganz besonderen Tag«. Mum hatte hineingeschrieben:
Für meine wunderschöne, geliebte Tochter Shelley. Süße sechzehn! Mögest Du Dich für den Rest Deines Lebens an dieses Jahr erinnern.
Wie ironisch die Worte nun klangen. Ich hatte erst seit wenigen Stunden Geburtstag und wusste schon jetzt, dass ich ihn nie vergessen würde.
(Warum hast du das getan?)
Ich kochte eine große Kanne Kaffee und gab sechs statt der üblichen vier Löffel hinein. Wenn wir den Tag überstehen wollten, konnten wir jede Unterstützung gebrauchen. Ich trug Kaffee und Tassen ins Esszimmer. In der Küche wollte ich nicht bleiben. Es lag nicht nur an dem grellen Licht, das mir in den Augen weh tat. Es war, als ginge der Kampf der letzten Nacht dort drinnen weiter, das Stechen, das Ringen, das Schreien, wie ein Film, der in einem leeren Kino in Endlosschleife gezeigt wird …
Um kurz nach acht kam Mum in ihrem marineblauen Kostüm nach unten. Sie hatte schon die Aktentasche dabei. Ich staunte, wie geschickt sie die Verletzungen im Gesicht überschminkt hatte. Sie hatte das Auge gekühlt, wodurch die Schwellung beträchtlich zurückgegangen war, und grauen und violetten Lidschatten aufgelegt, um die gleichfarbigen Blutergüsse zu verdecken. Den Kratzer an der Wange hatte sie mit Grundierung getarnt und das Haar nach vorn gekämmt (gewöhnlich strich sie es hinter die Ohren). Man musste sie schon sehr genau ansehen, um zu erkennen, dass sie einen Schlag ins Gesicht erhalten hatte.
»Dein Auge sieht erstaunlich aus, Mum – wie hast du das gemacht?«
»Ich habe Make-up nicht immer gehasst. Ich war auch mal sechzehn.« Sie wollte mir zuzwinkern, doch dabei traten ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen.
Sie setzte sich und trank geräuschvoll von ihrem Kaffee.
»Was ist mit deinem Hals, Liebes?«
»Geht so. Es tut weh, wenn ich schlucke. Irgendetwas scheint verrutscht zu sein – ausgerenkt oder so.«
Mum schaute mich besorgt an. »Ich bringe dir was aus der Stadt mit.«
»Hustenbonbons werden da wohl kaum helfen«, sagte ich plötzlich gereizt. »Ich muss zum Arzt.«
»Wenn es nicht besser wird, gehen wir zum Arzt, aber es ist riskant, Shelley.«
»Ich weiß nicht, wie ich den heutigen Tag überstehen soll, Mum«, jammerte ich. »Ich bin so müde! Kann ich nicht einfach Roger und Mrs Harris anrufen und sagen, ich sei krank?«
»Auf gar keinen Fall!«, erwiderte sie so heftig, dass mir die Röte in die Wangen stieg. »Wir dürfen unseren Tagesablauf nicht verändern – alles muss
normal
aussehen. Wenn die Polizei kommt und du deinen Unterricht abgesagt hast und ich nicht zur Arbeit gegangen bin, machen wir uns verdächtig.«
Dann lächelte sie warmherzig und drückte meine Hand, und ich wusste, dass sie sich für ihre barschen Worte entschuldigen wollte. »Ich weiß, dass es nicht leicht ist, aber du wirst es schaffen, ganz sicher.«
Ich
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