Mucksmäuschentot
schwieg resigniert und starrte trübsinnig vor mich hin. Ich wollte nicht, dass sie zur Arbeit ging. Ich wollte nicht allein im Haus bleiben. Nicht mit diesem
Ding
im Vorgarten.
»Mum?« Etwas hatte mir schon den ganzen Morgen keine Ruhe gelassen. »Meinst du, der Bauer hat uns gesehen?«
»Gesehen hat er uns, definitiv. Aber nicht richtig. Er war zu weit entfernt und fuhr zu schnell. Er hat nur zwei Frauen gesehen, die im Bademantel im Garten arbeiten. So ungewöhnlich ist das nicht. Jedenfalls nicht hier auf dem Land.«
Ich lächelte erleichtert, weil sie so sorglos wirkte. Dann verzog sich mein Gesicht zu einem gewaltigen Gähnen. »Mein Gott, ich kann kaum die Augen offen halten!«
Mum nahm mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und schaute mich eindringlich an. »Deine Augen sind sehr blutunterlaufen. Falls Roger oder Mrs Harris eine Bemerkung machen, sagst du einfach, wir hätten gestern Abend zu viel Wein getrunken. Du hättest jetzt einen schlimmen Kater.«
»Gute Idee«, sagte ich. »Genauso fühlt es sich auch an.«
Mum trank ihren Kaffee aus und schaute nervös auf die Uhr. Dann plusterte sie sich auf wie eine Glucke, die ihre Küken beschützt, wie sie es immer tat, wenn es etwas Wichtiges zu verkünden gab
(Shelley, dein Daddy will sich scheiden lassen …)
. Sie drückte meine Hand und sah mir tief in die Augen. »Hör zu, ich habe keine Ahnung, was heute passieren wird. Das Haus ist so sauber, wie es in der kurzen Zeit nur möglich war. Doch du solltest trotzdem niemanden in die Küche lassen, und auch nicht nach oben, egal was geschieht. Falls –«, und sie drückte meine Hand noch fester – »falls die Polizei herkommt, ruf mich sofort an. Sag ihnen, deine Mutter sei unterwegs, sie werde in einer Stunde hier sein.
Lass sie auf keinen Fall ins Haus
– auch nicht mit einem Durchsuchungsbefehl. Sie werden warten, ganz bestimmt. Sollte aber das Schlimmste passieren, und du wirst verhaftet, dann sag
nichts, zu niemandem
– hast du mich verstanden? Verweigere jede Aussage. Du kannst gerne erklären, dass du auf meine Anweisung handelst.«
Dann stand sie auf. »Ich muss los. Ich darf mich nicht verspäten.«
Ich blieb, wo ich war, schockiert von ihren Worten:
Sollte aber das Schlimmste passieren, und du wirst verhaftet … du wirst verhaftet … du wirst verhaftet …
»Sei tapfer«, sagte Mum. »Alles wird gut, du wirst schon sehen. Heute Abend reden wir weiter.«
***
Ich winkte halbherzig, als sie wegfuhr, doch sie schaute nicht zurück und winkte auch nicht auf ihre besondere Art. Sie kauerte über dem Lenkrad und konzentrierte sich ganz auf das Problem, das die letzte Nacht für sie darstellte. Unser vertrauter Tagesablauf war durcheinandergeraten – wir hatten nicht zusammen in der Küche gefrühstückt, wir hatten einander an der Tür nicht zum Abschied geküsst, ich hatte nicht gesagt, sie solle vorsichtig fahren, wie ich es sonst immer tat. Alles hatte sich verändert. Alles veränderte sich:
Sollte aber das Schlimmste passieren, und du wirst verhaftet …
Ich wollte schon die Haustür schließen, als ich es spürte. Ein unheimliches, kaltes Gefühl, das über die linke Seite meines Gesichtes kroch, eine plötzliche Befangenheit, das scharfe Bewusstsein meiner selbst in meiner Haut, meines Gesichtsausdrucks, der Haltung meiner Hände, der Art, wie ich dastand.
Das Gefühl, dass mich jemand beobachtete.
Ich betrachtete die Bäume und Sträucher auf der Insel in der Mitte der Kiesauffahrt, den gähnenden Mund der Garage mit der Trittleiter und der Öldose, die Hecke rechts, die ans Feld des Bauern grenzte, konnte aber niemanden sehen. Links standen die Büsche, die die Kiesauffahrt vom Vorgarten trennten, und durch ihr dichtes Laub konnte ich den kurz geschnittenen Rasen erkennen.
Und den bedrohlichen Haufen auf dem ovalen Rosenbeet.
Er ist tot, Herrgott nochmal! Er ist tot!
Ich schlug die Tür zu und legte mit zitternden Händen die Kette vor.
21
Ich weiß bis heute nicht, wie ich den Tag überstanden habe. Nachdem Mum zur Arbeit gefahren war, saß ich zusammengesunken wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hat, am Esstisch. Ich muss fast zwei Stunden dort verbracht und die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder und wieder durchlebt haben, vom Augenblick, in dem ich aufwachte, bis zu dem Moment, in dem Mum den Schädel des Einbrechers mit dem Schneidbrett zerschmettert hatte.
Es war, als hätte mein Verstand die ungeheuerlichen Geschehnisse nicht
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