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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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übersehen hatten, ein winziges verräterisches Detail, das uns in unserer Erschöpfung nicht aufgefallen war. Und wenn … was dann? Mum hatte nicht gesagt, was ich tun sollte, wenn Roger unser Geheimnis entdeckte.
    Nachdem er scheinbar endlos seine Notizen geordnet hatte, begann Roger mit den Ursprüngen des Ersten Weltkriegs, ein Gebiet, auf dem er ein echter Experte war. Ich nickte, gab zustimmende Laute von mir und schrieb gelegentlich etwas in mein Notizbuch, während mein Verstand wie besessen wieder und wieder die Ereignisse der Nacht abspulte.
    »Du musst bedenken, dass Deutschland an den Schlieffenplan gebunden war, nach dem Frankreich durch einen Blitzangriff ausgeschaltet werden musste, damit sich die deutschen Streitkräfte ganz auf Russland konzentrieren konnten – das war ein absoluter Glaubensartikel für sie.«
    Ihr rührt euch nicht, sonst gibt’s das hier!
    »Sollten die Russen ihre Mobilmachung vollenden, hätten sie sechs Millionen Männer unter Waffen, und trotz ihrer Niederlage gegen Japan fürchtete man sich in Deutschland noch immer vor der ›russischen Dampfwalze‹.«
    Ich muss euch fesseln. Dafür hab ich doch das Seil dabei.
    »Österreich-Ungarns Ultimatum an Serbien war so strikt, dass es kaum einzuhalten war, obwohl die Serben sich sehr darum bemühten – Kaiser Wilhelm erkannte sogar an, dass der Kriegsgrund sich erledigt hatte …«
    Ich hätte die Eier nicht essen sollen. Die waren nicht mehr gut.
    »Es gibt Hinweise darauf, dass Berchtold einen gefälschten Bericht über serbische Aggressionen an der Donau benutzte, um den Kaiser zur Unterzeichnung der Kriegserklärung zu zwingen …«
    Ich weiß, was ich brauche, Lady! Ich weiß, was ich brauche!
    »Großbritanniens Grund für den Kriegseintritt war die Tatsache, dass Deutschland die belgische Neutralität verletzt hatte. Allerdings plante Großbritannien selbst, im Notfall Truppen nach Belgien zu entsenden. Ein wirklich neutrales Belgien hätte die britischen Pläne, Deutschland durch eine Seeblockade auszuhungern, durchkreuzt …«
    Er wird uns töten, Mum. Das weiß ich genau.
    »Falls Frankreich seine Neutralität verkündete, würde Deutschland die Festungen von Verdun und Toul verlangen …«
    Bisschen kuscheln?
    »Frankreich sollte zum Krieg gezwungen werden, ob es ihnen gefiel oder nicht …«
    Mum, das Seil gibt nach. Ich glaube, ich bekomme die Hände frei …
    Als wir mit den Ursachen des Ersten Weltkriegs durch waren und Roger mir einen Aufsatz zur Wiederholung aufgegeben hatte
(Diskutiere die Aussage: Das Bündnissystem machte den Ersten Weltkrieg unvermeidlich.)
, gingen wir zu einer Verständnisübung in englischer Literatur über: eine lange Passage aus
Moby Dick
mit dem Titel »Stubb tötet einen Wal«, die im vergangenen Jahr Prüfungsthema gewesen war.
    Wie üblich gab er mir eine halbe Stunde, um die zehn Fragen zu beantworten, und danach gingen wir die Antworten gemeinsam durch.
    Ich hatte
Moby Dick
nie gelesen und fand die Passage fast unverständlich, voller nautischer Fachbegriffe, die ich nicht kannte, und seltsamer Namen – Queequeg, Pequod, Daggoo, Tashtego. Die Fragen zum Text
(Welche literarische Rolle spielt Stubbs Pfeife in dieser Passage?)
erschienen mir viel schwieriger als sonst. Ganze Sätze ergaben überhaupt keinen Sinn für mich. Wellen der Müdigkeit überkamen mich, und ich konnte nur mit Mühe die Augen aufhalten. Mir war unglaublich heiß, das Tuch um den Hals drohte mich zu ersticken, mein Mund war ausgetrocknet. Ich konnte mich unmöglich auf die Seite konzentrieren, weil schwarze Ameisen über sie hinwegmarschierten und vor meinen Augen umherwirbelten.
    Mir dämmerte, dass es um eine Gruppe Seeleute in einem Ruderboot ging, die von einem Mann namens Stubb angeführt wurde und einen Wal jagte, und dass Stubb den Wal mit seiner Harpune tötete, doch wurde meine Fähigkeit, die Feinheiten zu erfassen, immer wieder gestört, weil der Text unangenehme Erinnerungen wachrief. Als Stubb seine »verbogene Lanze wieder und wieder« in den Wal »sandte«, sah ich mich den Einbrecher um den Küchentisch jagen und wieder und wieder auf ihn einstechen.
(Wir spielen Reise nach Jerusalem! Wir spielen Reise nach Jerusalem!)
Als »die rote Flut die Flanken« des sterbenden Wals herabströmte, sah ich den gewaltigen See aus Blut, der über die Terrakottafliesen auf mich zugekrochen war, während ich erschöpft neben der Waschmaschine kauerte. Als der Wal »Schwall auf Schwall klumpigen

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