Mucksmäuschentot
erfassen können, und versuchte nun verzweifelt, sie irgendwie zu verarbeiten. Ich konnte nichts dagegen tun und saß da wie ein Zombie, starrte ins Leere, sah das grausige Drama in Großaufnahme und Zeitlupe vor meinem inneren Auge. Und sobald es zu Ende und der Einbrecher tot war, begann es von neuem.
Ein lautes Klopfen an der Tür riss mich in die Gegenwart.
Die Polizei! Es ist die Polizei! Wie hatten sie uns so schnell gefunden?
Wie eine Schlafwandlerin tappte ich durchs Wohnzimmer, wobei mein erschöpftes Herz wild in meiner Brust trommelte.
Ich darf sie nicht reinlassen, selbst wenn sie einen Durchsuchungsbefehl haben, ich darf sie nicht reinlassen!
Mit zitternder Hand schob ich die Vorhänge beiseite und spähte hinaus. Kein Polizeiauto, kein Blaulicht, keine Beamten in schwarzer Uniform mit knisterndem Funkgerät. Da stand nur Roger. Roger mit seiner alten Umhängetasche. Roger, der vor sich hin pfiff. Roger, der zum wolkenlosen blauen Himmel hinaufblinzelte.
Roger war an diesem Morgen ausgesprochen gutgelaunt. Noch nie hatte ich ihn so fröhlich und redselig erlebt, fast als hätte er und nicht ich Geburtstag. Er hatte mir eine wunderschöne gebundene Ausgabe von Daphne du Mauriers
Rebecca
gekauft und dazu eine Geburtstagskarte, auf der ein Anstreicher mit Kelle vor einer Wand stand und sagte:
Lass uns mal richtig auf den Putz hauen!
Es war ungeheuer mühsam, die mädchenhafte Aufregung vorzutäuschen, die Roger von mir erwartete. Mir war, als würde mein Verstand jeden Moment in tausend Stücke zerbrechen. Schon das Wort Geburtstag mit seinen schrecklichen neuen Assoziationen
(Was ist das denn? Das Geburtstagsgeschenk für meine Tochter. Was ist drin?)
ließ mich erröten, und Tränen stiegen mir in die Augen, die ich schnell wegblinzelte.
Ich bemühte mich, Rogers fröhliche Fragen zu beantworten
(Was hast du von deiner Mum bekommen? Unternehmt ihr heute Abend etwas Besonderes?)
, und ich stolperte über die Wörter, als hätte ich eine Narkose hinter mir oder sei das Sprechen nicht gewöhnt. Mein Lächeln war so gezwungen, dass mein Gesicht weh tat. Vorsichtshalber erklärte ich so schnell wie möglich, dass Mum und ich zu viel getrunken hatten und heute Morgen beide teuer dafür bezahlten.
»Ja, junge Dame, mir war schon aufgefallen, dass deine Augen ziemlich rot sind«, neckte er mich.
Wir gingen ins Esszimmer und setzten uns auf die üblichen Plätze. Roger packte seine Umhängetasche aus. Ich war nervös, weil ich fürchtete, dass seine scharfen Augen etwas bemerken könnten. Sie sahen riesig aus hinter der Brille und schossen hin und her wie intelligente grüne Fische. War uns etwas entgangen? Ragte etwa ein Stück von dem zerfaserten Seil, mit dem er uns gefesselt hatte, unter dem Sofa hervor? Würde er die weiße Stelle am Dach des Häuschens bemerken, wo der Schornstein abgebrochen war? Lag ein Splitter der kaputten Vase neben seinem Stuhlbein? Welches winzige Fädchen würde das ganze Gewebe aufribbeln? Ich kritzelte auf dem Rand meines Heftes herum und wagte nicht, ihn anzuschauen. Mein Gesichtsausdruck hätte mich verraten.
Für mich war alles in diesem Zimmer beschmutzt, besudelt,
durchdrungen
von den Ereignissen der vergangenen Nacht – das Sideboard und der antike Sekretär waren erst vor wenigen Stunden geplündert worden; die hölzerne Schale der Duftmischung war bei seiner hektischen Suche zu Boden gefallen; der Nippes auf dem Sideboard war in die rote Sporttasche geschaufelt worden, die er noch in der Hand gehalten hatte, als ich auf ihn einstach; sein Messer hatte auf dem Esstisch gelegen (genau dort, wo Roger gerade sein Stiftmäppchen platzierte), bevor ich es auf dem Weg in den Garten mitgenommen hatte; auf Rogers Stuhl, dem mit der Schramme in der Rückenlehne, hatte Mum mit gefesselten Händen und Füßen gesessen und ergeben auf ihr Schicksal gewartet.
Ich war davon überzeugt, dass Roger die Spuren der Ereignisse sehen würde, die für mich so deutlich waren wie die Kondensstreifen eines Flugzeugs am azurblauen Himmel. Ich rechnete damit, dass er jeden Augenblick rufen würde:
Was ist denn hier passiert, Shelley? In diesem Haus ist etwas Furchtbares geschehen!
Ich konnte unmöglich glauben, dass das Esszimmer für ihn so war wie immer, dass er nichts am Sekretär, dem Nippes oder seinem Stuhl bemerkte; dass die finsteren Veränderungen nur eine Projektion meines schlechten Gewissens waren. Ich war davon überzeugt, dass er etwas bemerken würde, das Mum und ich
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