Mucksmäuschentot
immer war nichts geschehen.
Nach dem Kampf, den ich mit Paul Hannigan in der Küche ausgetragen hatte, fühlte ich mich tagelang körperlich erschöpft. Zuerst schlief ich bei jeder Gelegenheit wie eine Katze, sank in einen ganz, ganz tiefen Schlaf, aus dem ich mit trockenem Mund und schmerzenden Augen erwachte. Doch nachdem sich die Erschöpfung gelegt hatte, bekam ich ernsthafte Schlafprobleme. Ich hatte schon unter Schlaflosigkeit gelitten, als das Mobbing besonders schlimm gewesen war, doch diese vorübergehenden Schwierigkeiten waren nichts im Vergleich zu den wachen Nächten, die ich jetzt durchleiden musste.
Sobald ich ins Bett ging und die Augen schloss, sah ich Paul Hannigans Gesicht mit erstaunlicher Klarheit, als stünde er vor mir. Die kalkweiße Blässe seiner Haut; das schmierige schwarze Haar, das ihm wie Öl über Ohren und Schultern floss; den kaum sichtbaren Bartflaum um seinen Mund; wie er sich mit flatternden Lidern bemühte, die Augen offen zu halten, die sich nach oben verdrehten wie bei einem Medium, das soeben Kontakt zur Geisterwelt aufgenommen hat. Ich hörte seine Stimme, seinen hässlichen Akzent, seine dreiste Arroganz.
(Ich weiß, was ich brauche, Lady! Ich weiß, was ich brauche!)
Manchmal klang seine Stimme so real, dass ich ihn tatsächlich in meinem Zimmer glaubte – ich vermeinte sogar, ihn zu riechen, diese widerliche Mischung aus Alkohol, Zigaretten und Schweiß, die ihn wie ein Nebel umhüllte. Dann setzte ich mich im Bett auf und spähte voller Entsetzen in die dunkelsten Winkel meines Zimmers. Ich rechnete damit, dass sich seine Gestalt jede Sekunde aus den Schatten lösen und auf mich zukommen würde.
Ich warf mich im Bett herum, doch sein boshaftes Wieselgesicht ließ mich nicht schlafen. Nach drei derartigen Nächten erzählte ich Mum davon und fragte, ob ich bei ihr schlafen könnte, bis es vorbei sei. Sie hatte nichts dagegen und schenkte mir ihr tröstliches
Alles-wird- gut-
Lächeln. Als ich mich in dieser Nacht in Mums warme Arme kuschelte, verschwand das Gesicht des Einbrechers völlig aus meinem Kopf, als könnte es mir in diesem magischen mütterlichen Zirkel nichts anhaben.
Mum hatte allerdings nicht erwähnt, dass sie ebenfalls unter Schlaflosigkeit litt. Obwohl ich in ihrem Bett mühelos einschlafen konnte, wurde ich von ihrer Unruhe irgendwann wieder wach. Nach einigen Nächten kehrte ich in mein Bett zurück und hoffte, der Bann sei gebrochen, doch die Schlaflosigkeit kam wieder. Ich stand ganz am Anfang.
Widerwillig versuchten wir es beide mit Schlaftabletten. Mum war immer dagegen gewesen, weil sie eine Abhängigkeit fürchtete. Doch die kleinen violetten Pillen, die sie von Dr. Lyle bekam, wirkten bei mir Wunder. Ich nahm sie eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen und fiel fast sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ich reduzierte die Dosis auf eine halbe Tablette und dann auf ein Viertel, und nach einer Woche konnte ich innerhalb von zehn Minuten einschlafen, ohne überhaupt ein Medikament genommen zu haben.
Dann begannen die Albträume.
Die ersten Albträume waren wirr und bruchstückhaft. Sie sprangen wie ruhelose Fliegen von einer Schreckenskammer in die nächste, ohne irgendwo zu verweilen. Wenn ich aufwachte, erinnerte ich mich kaum daran, nur an das allgemeine Gefühl, die ganze Nacht von einem unsichtbaren Grauen verfolgt zu werden. (Ich musste es nicht sehen. Ich wusste auch so, was – oder
wer
– es war.)
Nur an zwei Träume kann ich mich ziemlich genau erinnern. In einem übte ich im Wohnzimmer Flöte. Als ich aufblickte, starrte mich Paul Hannigan durchs Fenster an. Sein Mund mit dem grauenhaft ausgerenkten Unterkiefer klaffte auf wie bei einem Gespenst in der Geisterbahn. In dem anderen Traum zogen Mum und ich die Leiche des Einbrechers an den Füßen unter dem Küchentisch hervor und mussten feststellen, dass wir nicht Paul Hannigan getötet hatten, sondern
meinen Dad
.
Dieser Albtraum verfolgte mich tagelang, und zwar nicht nur, weil der Anblick meines Vaters, der mit dem Gesicht nach unten in der Blutlache lag, so realistisch wirkte. Es war mehr als das. Der Traum nagte an mir wie ein Vorwurf. War es mir in Wahrheit darum gegangen? Ich weigerte mich, das zu glauben – ich konnte meine Gefühle für meinen Vater immer noch nicht unterdrücken. Warum also sollte ich mir wünschen, ihn zu töten?
Allmählich konzentrierten sich die wirren und zusammenhanglosen Albträume auf einen einzigen, der mich jede Nacht
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