Mucksmäuschentot
Herausforderung an die Götter.
»Ich weiß nicht. Du solltest nicht so voreilig sein, Mum, nicht alles voraussetzen. Es gibt so vieles, das wir nicht wissen …«
Mum lachte. »Du hast zu viele Filme gesehen. Du
erwartest
einfach, dass du geschnappt wirst, du
erwartest
, dass etwas schiefgeht. Im Film kommt nie jemand mit etwas durch, weil das Publikum nicht glauben soll, dass Verbrechen sich lohnen. Aber das hier ist kein Film – das ist die Wirklichkeit. Und in Wirklichkeit kommen Leute dauernd mit so etwas durch.«
Ich hoffte, dass sie recht hatte, wollte das Schicksal aber nicht herausfordern. Meiner Ansicht nach wären wir erst in Monaten, vielleicht sogar Jahren, wirklich sicher. Es gab zu viele Unwägbarkeiten. Jeden Moment konnte Blaulicht vor dem Haus aufblitzen und das furchtbare Klopfen an der Tür erklingen. Also wechselte ich das Thema.
»Der Trenchcoat. Den haben wir noch nicht durchsucht.«
Er lag neben dem Fernseher auf dem Boden. Ich hob ihn auf. »Mann, ist der schwer!«
Der Stoff glitt mir durch die Finger, und der Mantel entrollte sich. Etwas Schweres rutschte heraus, prallte schmerzhaft auf meinen Fuß, fiel zu Boden und schlitterte über die glatten Dielen.
Normalerweise hätte ich das Haus zusammengeschrien, doch die Überraschung betäubte mich. Ich ließ mich aufs Sofa fallen, rieb mir die schmerzenden Zehen, biss mir auf die Unterlippe und starrte benommen auf die Pistole, die in unserem Wohnzimmer lag.
Das Unwetter brach mitten in der Nacht los, und ich lag lange wach und hörte zu. Noch nie hatte ich solchen Regen erlebt; wenn ich glaubte, er könne nicht stärker herunterprasseln, steigerte er noch seine Gewalt. Es war, als hätte sich die Welt vor meinem Schlafzimmerfenster verflüssigt – alles lief, tropfte, rann, platschte,
blutete
.
Die Windböen waren so heftig, als würden die Hände eines Wahnsinnigen ans Fenster trommeln, und bisweilen schien es wirklich, als könnte das Glas brechen und das heulende, kreischende Chaos eindringen. Etwas Gefährliches und Obszönes schien seinem Gefängnis entkommen und lief Amok. Und es würde sich nur nach einem heldenhaften Kampf ergeben.
Während ich dalag und auf die ohrenbetäubenden Regenfluten horchte, stellte ich mir den Garten und die umliegenden Felder vor und wie das ansteigende Wasser Paul Hannigans Leiche aus seinem schlammigen Bett spülte und vor aller Augen auf den Fluten davontrug. Ich sah die Polizei in einer Landschaft, die sich in einen riesigen See verwandelt hatte. Die Polizisten beugten sich aus ihrem Schlauchboot und versuchten, die aufgedunsene Leiche aus den Ästen eines Baumes zu lösen …
Vierzig Tage und vierzig Nächte mit einem solchen Regen würden die ganze Welt ertränken. Und ich war derart von dunklen Vorahnungen erfüllt, dass es mir nicht als die schlechteste Lösung erschien.
28
Jeden Tag beim Aufwachen dachte ich das Gleiche:
Heute kommt die Polizei.
Ich konnte es deutlich vor mir sehen: die Leute von der Spurensicherung, die in weißen Overalls Küche und Terrasse absuchten; die Polizisten, die sich auf Händen und Knien minutiös durch den Garten arbeiteten; das Zelt, das sie über dem ovalen Rosenbeet aufschlagen würden, sobald sie die Leiche gefunden hatten; Mum und ich, wie wir uns durch die Masse der Journalisten in der Auffahrt drängten und uns in die zweifelhafte Sicherheit des wartenden Streifenwagens begaben …
In jenen Tagen schrieb ich der Polizei geradezu übernatürliche Fähigkeiten zu. Ich machte mir nicht die Mühe, die Situation zu analysieren und darüber nachzudenken, welche Puzzleteile sie überhaupt in der Hand hatten
(einen Vermissten, ein verlassenes Auto)
. Sie wussten, was wir getan hatten. Wie Gott, dessen Auge alles sieht, hatten auch sie gesehen, was in jener Nacht in Honeysuckle Cottage geschehen war.
Und doch passierte zu meiner großen Überraschung gar nichts. Kein Blaulicht, kein furchterregendes Klopfen an der Haustür. Die folgenden Tage vergingen zumindest äußerlich, als wäre nichts geschehen. Morgens kam Roger, um mich zu unterrichten, nachmittags Mrs Harris, dann machte ich am Esstisch Hausaufgaben, bis Mum von der Arbeit kam, übte Flöte, kochte mit Mum das Abendessen, las Romane und hörte Puccini. Mum ging zur Arbeit und pflegte ihre Fälle wie eine liebevolle Gärtnerin. Ansonsten bemühte sie sich nach Kräften, Blakelys gierigen Händen und seinem üblen Temperament aus dem Weg zu gehen.
Eine neue Woche begann … und noch
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