Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece

Vom Netzwerk:

ungemein verbessern würde, doch Roger tat meine Bedenken ab. »Du bist eine Einserkandidatin, Shelley. Du schaffst sogar eine Eins, wenn du bei der Prüfung auf dem Kopf stehst. Eine Triefnase dürfte für dich kein Hindernis sein.«
    Doch die Ergebnisse waren, wie ich schon befürchtet hatte, enttäuschend. Die ganze Woche quälten mich die schrecklichen Bilder, warfen meine Gedanken um wie einen Turm aus Bauklötzen, so dass ich wieder von vorn anfangen musste. Obwohl ich in Englisch und Geschichte eine Eins schaffte, waren Mathe und Physik nur ausreichend und alles andere zwei bis drei.
    Roger war überrascht, dass ich bei Mrs Harris so schlecht abgeschnitten hatte, machte sich aber keine großen Sorgen, da ich in seinen Fächern gute Leistungen gezeigt hatte. In der Tat war er geradezu begeistert von der Antwort, die ich auf seine
Macbeth-
Frage gegeben hatte.
    Er lief um den Esstisch und las aufgeregt ganze Passagen daraus vor:
    »›Das vielleicht Brillanteste an Macbeth ist die Tatsache, dass er eigentlich gar keinen Charakter hat. Er ist treu und verräterisch; er liebt seine Frau, doch es kümmert ihn nicht, als sie stirbt; er ist furchtlos in der Schlacht, aber ein Feigling in der Nacht des Mordes; er tötet eine wehrlose Frau und ein Kind, stirbt aber wie ein Held … Anscheinend will Shakespeare damit sagen, dass echte Menschen keine
Charaktere
sind, sondern durch ihre
Taten
definiert werden. Der Tapfere erweist sich als Feigling, der Feige als tapfer, der Grausame kann freundlich und der Freundliche grausam sein …‹ Das ist Universitätsniveau, Shelley,
Universitätsniveau
!«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
    Ich spürte, wie seine vergrößerten grünen Augen auf mir ruhten. Und als er weitersprach, klang seine Stimme anders, irgendwie vertraulicher. »Wie gelangt ein so junger Mensch zu so tiefen psychologischen Einsichten?«
    Ich sah, wie Mum eine Schaufel schwarze Erde auf Paul Hannigans Gesicht warf und rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her.
    »Ich glaube, ich weiß es.«
    Ich merkte, wie ich rot wurde und mich verkrampfte.
Was wollte er damit sagen?
Ich atmete aus, als er sanft hinzufügte: »Die JETS .«
    Um meine Erleichterung zu verbergen, nickte ich nur und wandte mich ab, wobei ich verlegen die Ecke meines Heftes umknickte.
    Von diesem einen Lichtblick abgesehen, gab es nicht viel zu feiern. Mrs Harris war angesichts meiner Ergebnisse völlig demoralisiert. Sie schien zu glauben, ich hätte es absichtlich getan, damit sie als unfähig dastand. Sie wischte die Tropfen vom Deckel ihrer Thermoskanne, schaute mich vorwurfsvoll an und sagte: »Dabei hatte ich gedacht, wir machen Fortschritte, Shelley. Bei der Arbeit – und persönlich.«
    Ich reagierte nicht auf ihren Kommentar.
    Auch Mum war enttäuscht, sehr sogar, versuchte aber, es nicht zu zeigen. Sie wollte mich sogar mit schwarzem Humor aufheitern. »Legastheniker bekommen vom Prüfungsausschuss eine halbe Stunde zusätzlich. Wie viel würden sie dir wohl geben, wenn sie wüssten, dass du unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidest, weil wir jemanden umgebracht haben?«
    Ich grübelte über meine schlechten Ergebnisse nach und vergoss sogar ein paar Tränen, als ich allein in meinem Zimmer war. Es empörte mich, dass Paul Hannigan – dieses wertlose
Nichts
! – meinen großen Moment zu verderben drohte, den wohlverdienten Erfolg bei den Prüfungen, die einen würdigen Abschluss meiner Schulzeit darstellen und mich an die Universität katapultieren sollten. Wenn ich nicht gut in der Schule war,
worin dann
?
    Doch gleichzeitig dachte etwas in mir:
Zum Teufel damit!
Irgendwann kommt die Polizei, und dann ist es ohnehin vorbei. Es wird keine Wiederholungen und Prüfungen mehr geben – dafür Spurensicherung in der Küche; Polizisten, die auf allen vieren den Rasen absuchen; die Meute brüllender Journalisten; die Hand auf meinem Kopf, die mich auf den Rücksitz des Streifenwagens drückt …
    Doch die Wochen vergingen, und noch immer kam keine Polizei.

    Jedes Wochenende durchkämmte ich die Zeitungen nach einem Artikel über Paul Hannigan. Ich wusste genau, womit ich rechnete; im Geiste hatte ich den Artikel quasi selbst geschrieben. Unter einer Schlagzeile wie
Polizei sucht fieberhaft nach Vermisstem
würde stehen:
    Die Polizei ist zunehmend besorgt über das geheimnisvolle Verschwinden des 24 -jährigen Paul Hannigan. Mr Hannigan wurde zuletzt am Montag, dem 10 . April,