Mucksmäuschentot
Eigenschaften jedes Tieres annehme, dass er töte. Ein Jäger, der viele Affen töte, werde zu einem findigen und klugen Mann, der die Leute mit seinen lustigen Mätzchen zum Lachen bringe. Ein Mann, der viele Wildschweine töte, würde ein vorbildlicher Familienvater, der für seine Lieben in den Tod gehe. Er erwähnte ein Tier, von dem ich noch nie gehört hatte. Dieses Tier würden sie nicht töten, weil es unzuverlässig und feige sei und sie fürchteten, diese schlechten Eigenschaften zu übernehmen. Sie glaubten, dass die Geister der Tiere und Menschen sich in der Geisterwelt vermischten und manchmal sogar miteinander verschmolzen. In der Tat waren viele der von ihnen verehrten Götter Mischungen aus Mensch und Tier, darunter der Affenmann und die unerschöpflich fruchtbare Hühnerfrau.
Ich trank meinen Wein und streckte mich auf dem Sofa aus. Eingeborene, die glaubten, tapfer wie ein Löwe zu werden, wenn sie einen getötet hatten – die Vorstellung war mir nicht neu. Vermutlich hatte ich in der Schule schon einmal davon gehört. Etwas daran faszinierte mich. Ich hätte gern gewusst, ob die Menschen vor Tausenden von Jahren (bevor es Polizei, Gefängnisse und Dokumentarfilmer gab) auch geglaubt hatten, dass man die Eigenschaften der Menschen annahm, die man tötete. Waren die Wälder angefüllt mit den uralten Gräbern von Menschen, die man wegen ihres guten Aussehens, ihrer Intelligenz oder ihres Witzes ermordet hatte? Würden Mum und ich in diesem Fall die Eigenschaften von Paul Hannigan annehmen?, fragte ich mich schläfrig. Würden wir uns mit seiner brutalen Art infizieren, als wäre sie eine entstellende Krankheit?
Ich musste wieder eingedöst sein, denn ich wurde wach, als Mums Auto knirschend über den Kies fuhr. Der Sender hatte sein Programm beendet. Man sah nur noch weiße Wolken an einem blauen Himmel, dazu erklang Fahrstuhlmusik. Die Uhr am DVD -Spieler zeigte 1.53 Uhr.
Ich stand in der Küche und riss den Mund zu einem gewaltigen Gähnen auf, als Mum den Schlüssel ins Schloss steckte.
»Was machst du denn noch hier?«, flüsterte sie, als wäre es zu spät, um laut zu sprechen.
»Ich bin beim Fernsehen eingeschlafen«, sagte ich und rieb mir die Augen. »Hast du es gut gefunden?«
Mum schien hellwach. Ihre Wangen waren rosig von der frischen Luft, und ihre Augen leuchteten.
»Ja, habe ich. Aber im Dunkeln war es ein schönes Stück Arbeit, das kann ich dir sagen. Ich hatte schon Angst, das Auto könnte auf den Waldwegen den Geist aufgeben. Es ist von oben bis unten mit Schlamm bedeckt – morgen früh muss ich als Erstes in die Waschanlage fahren. Gott sei Dank steht auf dem Berg ein beleuchteter Funkmast. Der hat mir sehr geholfen.«
Jetzt, da sie im Warmen war, begann ihre Nase zu laufen, und sie suchte schniefend nach einem Taschentuch.
»Ich hatte auch Glück«, fuhr sie fort. »Ein Teil des Zaunes neben dem Schacht war eingebrochen. Daher konnte ich fast bis ans Zechengebäude fahren.«
Ich kämpfte mit den Tränen und umarmte sie so fest ich konnte.
»Ich bin so froh, dass es dir gutgeht! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«
Sie drückte mich fest an sich, und ich konnte in den Falten ihres Mantels die Natur riechen. »Es ist alles weg, Shelley«, flüsterte sie und berührte mit den Lippen beinahe mein Ohr. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. »Es ist alles weg! Für immer verschwunden. Sie werden es
niemals
finden!«
Sie umfasste mein Gesicht mit den Händen und sah mich eindringlich an. Ich konnte kaum die Augen offen halten und musste wieder gähnen.
»Ab ins Bett, Schlafmütze.« Sie lächelte. »Ich muss etwas essen und ein bisschen runterkommen, bevor ich schlafen gehe.«
Ich gab ihr einen Gutenachtkuss und trottete schläfrig die Treppe hinauf. Sie nahm eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Ich hörte, wie sie gluckernd ihr Glas füllte. Das Gästezimmer wirkte überraschend leer ohne die ganzen Müllbeutel.
Ich lag im Bett und wartete auf den Schlaf. Es würde eine Weile dauern, bis er kam, und ich hoffte, dass mir der vertraute Albtraum diesmal erspart blieb. Ich war sehr erleichtert, dass Mum den Berg von Beweismitteln endlich aus dem Haus geschafft hatte. Wenn die Polizei morgen käme, würde sie nichts Belastendes mehr finden. Alles, was uns mit Paul Hannigan verband, lag über dreihundert Meter tief in einem Labyrinth dunkler Gänge begraben.
Besser gesagt,
fast
alles.
Denn ich hatte Paul Hannigans Führerschein behalten. Er lag in meiner
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