Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
Vom Netzwerk:
gesehen. Man fand sein verlassenes Auto auf dem Parkplatz des Farmer’s Harvest Restaurants …
    Hinzu käme ein Zitat von einer Verwandten (seiner Mutter? seiner Frau?), die ihn bat, sich zu melden, weil sie sich »furchtbare Sorgen« um ihn machte. »Es passt gar nicht zu Paul, einfach zu verschwinden, ohne Bescheid zu sagen.« Und dann folgte der vernichtende Satz, der mein Blut in den Adern gerinnen ließ, der Satz, der das Ende für Mum und mich bedeutete: »Mr Hannigans Wagen wurde am 12 . April auf einer Landstraße gesehen, wo er verkehrsgefährdend geparkt war. Ein Landwirt aus der Nachbarschaft benachrichtigte die Polizei …«
    Oder schlimmer noch:
    Die Polizei sucht nach zwei Frauen, möglicherweise Mutter und Tochter, die dabei beobachtet wurden, wie sie Mr Hannigans Wagen zwei Tage nach seinem Verschwinden auf dem Parkplatz des Farmer’s Harvest abstellten. Ein Augenzeuge, der bei dieser Gelegenheit mit ihnen sprach, hat der Polizei eine ausführliche Personenbeschreibung geliefert … Die Ermittlungen dauern an.
    Sie mussten nur den Taxifahrer befragen, der uns an jenem Abend nach Hause gefahren hatte, um unsere Adresse zu ermitteln.
    Doch in der Zeitung stand nichts über Paul Hannigan, absolut gar nichts.
    Natürlich war ich erleichtert, dass mich sein Wieselgesicht nicht von einem verschwommenen Familienfoto angrinste. Ich wollte nicht gefasst werden. Doch gleichzeitig fand ich das Schweigen seltsam beunruhigend.
    Es war, als hätte ein furchtbares Erdbeben in den frühen Morgenstunden meines sechzehnten Geburtstags unser Haus erschüttert und Decke und Wände über uns einstürzen lassen. Als wären wir unter Schock aus dem Haus gewankt und hätten den Rest der Welt vollkommen unversehrt vorgefunden. Als ginge alles seinen üblichen Gang. Wir konnten unmöglich akzeptieren, dass die Schockwellen jener Nacht nirgendwo sonst spürbar gewesen sein sollten, dass es unser persönliches, geheimes Erdbeben gewesen war.
    Und noch etwas an diesem Schweigen war beunruhigend. Dass Paul Hannigan vom Erdboden verschwinden konnte, ohne dadurch Interesse oder Sorge zu erregen, widersprach allem, was ich über den Wert des menschlichen Lebens gelernt hatte.
    So sollte es doch nicht sein, oder? Der Verlust eines einzigen Menschen, eines Individuums, musste doch etwas bedeuten, so wertlos seine Existenz an sich auch gewesen sein mochte. Unser Religionslehrer hatte uns einmal gefragt:
Stellt euch vor, ihr könntet das Leben eines Fremden beenden, indem ihr einfach einen Knopf an eurem Sessel drückt. Man wird es nie herausfinden, ihr werdet nicht bestraft. Würdet ihr das tun? Würdet ihr den Knopf drücken?
Ich hatte damals mit einem entschiedenen »Nein« geantwortet, weil ich davon überzeugt war, dass der Verlust eines Menschen etwas bedeutete, dass das Gefüge des Universums auf subtile, aber tiefgreifende Art verändert würde, wenn dieser hypothetische Fremde starb.
    Und doch war Paul Hannigan vom Angesicht der Erde verschwunden, und es hatte sich offenbar nichts verändert. Das Leben ging weiter wie immer. Sein Verschwinden hatte nicht in der Zeitung gestanden. Nicht einmal das Lokalblatt hatte darüber berichtet – Paul Hannigan verdiente nicht einmal zwei Zeilen zwischen den Plänen zur Erweiterung der Stadtbibliothek oder der Tombola des Rotary Clubs oder der Eröffnung zweier hochklassiger Outlets im Gewerbegebiet.
    Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass der Verlust eines Menschen vielleicht doch nicht so viel bedeutete. Möglicherweise war er ebenso bedeutungslos, wie wenn man eine Fliege an der Scheibe zerdrückte. Vielleicht veränderte sich das Gefüge des Universums kein bisschen.
    Als ich jetzt über die Frage des Religionslehrers nachdachte, kam mir der Gedanke:
Warum nicht den Knopf drücken? Würde es wirklich etwas ausmachen?

32
    Das Sprichwort, nach dem die Zeit alle Wunden heile, erwies sich als zutreffend, und unser Leben im Honeysuckle Cottage ging allmählich wieder seinen gewohnten Gang.
    Es fing mit Kleinigkeiten an. So aßen wir beispielsweise am Küchentisch und nahmen die alte Morgenroutine wieder auf – zwei Küsse in der Diele und die Ermahnung, vorsichtig zu fahren; Mum schaute zurück und winkte, wenn sie losfuhr. Wir holten die Gartenmöbel aus dem Schuppen und setzten uns wieder auf die Terrasse. Beim Abendessen schilderten wir einander – zunächst noch zaghaft – die Höhen und Tiefen des vergangenen Tages. Wir kochten wieder Spaghetti

Weitere Kostenlose Bücher