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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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sie wirkte auf krasse Weise fehl am Platz, auf krasse Weise
männlich
.
    »Ist sie geladen?«
    »Ja. Sechs Kugeln.«
    »Weißt du, wie man sie benutzt?«
    »Das ist nicht weiter schwierig, Shelley. Du löst die Sicherung und betätigst den Abzug.«
    Betäubt und ungläubig schüttelte ich den Kopf. Angesichts der physischen Realität der Waffe wurde mir allmählich klar, wie ungeheuerlich ihr Plan war.
    »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du sie behalten hast?«
    Mum rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum und wandte sich ab. »Ich – ich wollte dich nicht beunruhigen«
    »
Mich
beunruhigen?«
    Sie war leicht zu durchschauen: Sie hatte mir nicht gesagt, dass sie die Waffe behalten hatte, weil sie mir nicht mehr traute. Seit der Nacht, in der ich das Messer vom Esstisch genommen und Paul Hannigan in den Garten verfolgt hatte, wusste sie nicht mehr, wozu ich fähig war. Sie wusste nicht, was ich tun würde, wenn ich noch einmal unter solch extremen Stress geriet. Befürchtete sie etwa, ich könnte mich oder sie erschießen?
    Es störte mich, doch erkannte ich auch die Ironie dieser Situation: Während es mir vorkam, als hätte sich Mum seit der Nacht, in der wir Paul Hannigan getötet hatten, verändert, als wäre sie in mancher Hinsicht eine Fremde geworden, deren Verhalten ich nicht länger berechnen konnte, dachte sie genauso über mich.
    »Du hättest es mir sagen müssen. Du solltest keine Geheimnisse vor mir haben. Ich bin kein Kind mehr. Und ich bin auch kein
Freak

    Mum verzog gequält das Gesicht, und ich sah, dass sie ihren dunklen Verdacht bereute. Sie legte die Hand auf meine und lächelte entschuldigend: »Du hast recht, Shelley, ich hätte es dir sagen sollen.«
    Ich ließ zu, dass sie meine Hand hielt, verweigerte ihr aber ein verzeihendes Lächeln – bis mir einfiel, dass auch ich etwas vor ihr verbarg. Paul Hannigans Führerschein, den ich in meiner geheimen Kiste versteckt hatte. Da bekam ich Gewissensbisse und schenkte ihr das Lächeln, auf das sie wartete.
(Es ist okay, zwischen uns ist alles okay.)
    Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Waffe, deren obszöne schwarze Mündung genau auf mein Herz zielte.
    »Weißt du wirklich, wie man sie benutzt?«, drängte ich.
    »Ja, ganz sicher.«
    Ich stellte mir wieder den Geländewagen-Typ vor, doch diesmal kommandierte er uns nicht herum. Diesmal kniete er in einer Ecke der Küche, stammelte und schniefte und flehte um Gnade, während ich die Waffe auf seinen Kopf richtete. Würde es wie im Film sein? Würde plötzlich ein dicker Tropfen Erdbeermarmelade auf seiner Stirn erscheinen? Würde sein Blick allmählich leer, während seine Seele davoneilte? Würde er leblos auf dem Boden zusammensacken?
    Wenn er heute kommt, töten wir ihn …
    Wollten wir uns diesem entsetzlichen Trauma wirklich noch einmal aussetzen
(dem Blut, der Leiche, der Angst)
? Wollten wir wirklich einen Mord begehen? Denn das wäre es zweifellos. Bei Paul Hannigan hatten wir um unser Leben gekämpft, hatten in Notwehr gehandelt – doch jetzt wäre es kaltblütiger, vorsätzlicher Mord.
    Wenn er heute kommt, töten wir ihn …
    Aber warum mussten
wir
es tun? Warum konnte Mum nicht allein die Verantwortung übernehmen, so wie damals, als sie Paul Hannigans Leiche ausgegraben und die Müllbeutel in den Nationalpark gebracht hat? Warum sagte sie nicht, ich solle nach oben gehen und mich in meinem Zimmer verstecken, bis es vorbei war? Warum sollte ich dabei sein? Ich musste das doch nicht mit ansehen. Hatte ich nicht genug durchgemacht? Sollte sie mich nicht beschützen?
    Doch je länger sie gedankenverloren dasaß und schwieg, desto klarer wurde mir, dass sie nichts dergleichen sagen würde. Sie würde sich nicht für mich opfern. Was immer wir durchmachen mussten, würden wir zusammen durchmachen, das hatte sie beschlossen.
    »Meinst du das wirklich ernst, Mum?«, krächzte ich. Meine Kehle war plötzlich ganz trocken.
    Mum schaute mich nicht an. Sie streckte die Hand nach der Waffe aus und drehte den Lauf vorsichtig – als könnte er sie plötzlich beißen – mit der Spitze des Zeigefingers herum. Als sie mich wieder ansah, deutete die Waffe zur Haustür. In die Richtung, aus der der Erpresser kommen würde.
    »Wenn er zur Polizei geht, sind wir geliefert«, sagte sie knapp.
    Wieder verfielen wir in ein unbehagliches, angespanntes Schweigen. Das alles kam zur falschen Zeit! Ich hatte vorgehabt, den ganzen Tag Klimaerwärmung, französische Vokabeln und

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