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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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Stille, die gelegentlich vom Flattern weicher, gefiederter Körper in der Traufe unterbrochen wurde.
    Nach langer, langer Zeit sagte Mum: »Es gibt noch eine Möglichkeit, Shelley.«
    »Welche?«, knurrte ich, da ich nicht mehr als einen jämmerlichen Strohhalm erwartete. »Welche, um Gottes willen?
Welche?
«
    Mum ließ den Erpresserbrief auf den Tisch fallen und schaute mir tief in die Augen. Ihr Gesicht war bleich wie eine Totenmaske aus Alabaster.
    »Wir töten ihn, Shelley«, sagte sie im Flüsterton. »Wenn er heute kommt, töten wir ihn.«

36
    Es mag seltsam klingen, aber Mums Worte schockierten mich nicht. Ich war nicht entsetzt, wie man es hätte erwarten können. Noch vor zwei Monaten hätte ich ungläubig gestottert –
Bist du verrückt? Hast du den Verstand verloren?
 –, doch jetzt erwog ich den Vorschlag kalt und leidenschaftslos.
    Der erste Einwand, der mir in den Sinn kam, war nicht moralischer, sondern praktischer Natur. Ich erinnerte mich an den Geländewagen-Typ, seine schwere Bulldoggengestalt, den rasierten Kopf, den dolchförmigen Ziegenbart, die gemeinen, durchdringenden Äuglein.
    »Aber wie, Mum? Wie sollen wir ihn töten? Der Geländewagen-Typ ist riesengroß und hat eine Figur wie ein Kleiderschrank. Was sollen wir mit so einem Mann machen? Der Einbrecher war betrunken und wusste kaum, was er tat. Der Geländewagen-Typ ist eine andere Hausnummer.«
    »Wir wissen doch gar nicht, ob er es ist, Shelley. Du ziehst wieder voreilige Schlüsse.«
    »Aber was,
wenn
er es ist?«, beharrte ich. So leicht wollte ich mich nicht abspeisen lassen. »
Wenn
er es nun ist? Ein Schlag ins Gesicht von diesem Mann könnte dich töten. Das wirst du nicht überschminken und am nächsten Tag zur Arbeit gehen. Wie um Gottes willen sollen wir einen solchen Mann töten?«
    Mum sagte nichts. Sie starrte nur auf ihre großen, linkischen Hände, die auf dem Tisch lagen wie zwei sonnenbleiche Krebse, die die Flut an Land gespült hat. Sie schien etwas abzuwägen und gelangte zu einem Schluss, den sie zögernd vortrug.
    »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte sie schließlich und schaute mich seltsam an. Verblüfft, ein bisschen verschämt. »Ich weiß, wie.«
    »Wie denn?«
    »Moment.«
    Sie stemmte sich mühsam vom Stuhl hoch und verließ die Küche. Ich hörte ihre Stiefel auf der Treppe, das Stöhnen der Dielen in ihrem Schlafzimmer, dann war es still.
    Allein in der Küche, kam ich mir plötzlich nackt und verletzlich vor. Wenn nun der Geländewagen-Typ käme, während ich hier unten ganz allein war? Wenn sein Gesicht plötzlich am Küchenfenster auftauchte? Der Gedanke war so schrecklich, dass ich die Augen zukniff, um das Fenster nicht mehr zu sehen. Nur ein Gedanke raste durch meinen Kopf, während ich ungeduldig auf Mum wartete:
BeeildichMumbeeildichMum – beeildichMum!
    Das klagende Knarren der vierten Stufe verriet mir, dass sie auf dem Weg nach unten war, und ich machte die Augen wieder auf.
    Zu meiner Verwunderung hatte sie ihre beigefarbene Fleecejacke über die Bluse gezogen, obwohl wir wieder einen brütend heißen Tag vor uns hatten. Ihre Hände steckten in der großen Bauchtasche, die seltsam gewölbt aussah.
    Als Mum vor mir stand, zog sie langsam etwas hervor. In diesem Augenblick erfüllte gleißend weißes Sonnenlicht die Küche und blendete mich. Erst als ich zur Seite rückte und meine Augen abschirmte, sah ich, was sie in der ausgestreckten Hand hielt.
    »Du hast die Waffe behalten?«, keuchte ich, als ich den abscheulichen Gegenstand sah. »Du hast sie nicht in den Schacht geworfen?«
    Mum schüttelte kaum merklich den Kopf.
    »Wieso nicht?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie schulterzuckend. »Nach der Sache mit dem Einbrecher habe ich mich so unsicher gefühlt, dass ich mich einfach nicht davon trennen konnte.«
    Nach einer langen Pause fuhr sie fort: »Vielleicht habe ich tief im Inneren gewusst, dass wir sie noch brauchen würden …«
    Sie legte sie vorsichtig auf den Küchentisch und setzte sich hin. Ich war aufgestanden, doch meine Knie gaben nach, und ich sank wieder auf den Stuhl.
    Die Waffe lag auf dem Tisch wie ein metallener Skorpion, der seinen tödlichen Stachel im blaugrauen Lauf verbarg. Ich betrachtete sie mit einer Mischung aus Ekel und Faszination. Sie wirkte so fremd in der Küche inmitten der grünen Pastagläser, der Kochbücher, des Hundekalenders von meiner Oma, der Pinnwand aus Kork, die mit Fotos von Mum und mir und meinen Hello-Kitty-Aufklebern bedeckt war –

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