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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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den Versailler Vertrag zu wiederholen. Ich konnte nicht auf Knopfdruck zu diesem realen Problem umschalten. Mir fehlte die geistige Energie, um einen so enormen Gipfel zu erklimmen, nicht heute, nicht jetzt, es war einfach zu viel. Ich wollte zu den überschaubaren, begrenzten Problemen meiner Prüfungen zurückkehren.
    »Aber ihn töten? Ihn
wirklich töten
, Mum?«
    »Das ist der
Zugzwang
«, erwiderte sie mit einem bitteren Lächeln.
    »Der was?«
    »
Zugzwang.
Ein Begriff aus dem Schach. Wenn du an der Reihe bist und nur Züge zur Auswahl hast, die von Nachteil für dich sind.«
    Ich dachte darüber nach. Sie hatte völlig recht. Was immer wir beschlossen – uns stellen, das Geld aushändigen oder den Erpresser töten –, wir würden leiden. Alle Optionen waren gleichermaßen entsetzlich. Aber wir mussten etwas tun. Wir waren am Zug.
    »Wir stecken so tief drin, dass wir ebenso gut weitermachen können. Uns jetzt zu stellen, wäre genauso schlimm wie –« sie wollte das Wort Mord nicht aussprechen – »weiterzumachen.«
    Wir stecken so tief drin.
Die Formulierung erinnerte mich an etwas anderes. An eines der Zitate aus
Macbeth
, die ich vor wenigen Tagen gelernt hatte. Ich rief es mir ins Gedächtnis:
    Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen,
    Dass, wollt ich nun im Waten stillestehn,
    Rückkehr so schwierig war als durchzugehn.
    Die Stelle, an der dieses Zitat vorkommt, beunruhigte mich mehr als die Worte selbst. Macbeth spricht sie, unmittelbar bevor er den Befehl zum Mord an Macduffs Frau und Kind erteilt. Unmittelbar bevor er seine erste Gräueltat begeht.
    »Du gehst besser rauf und ziehst dich an«, sagte Mum und fasste mich sanft am Ellbogen. »Er kann jeden Augenblick kommen.«
    »Na schön«, seufzte ich. »Aber wenn ich runterkomme, müssen wir das noch einmal gründlich besprechen. Wir können uns nicht blindlings in etwas hineinstürzen. Vielleicht sind wir gar nicht im Zugzwang. Vielleicht gibt es eine Lösung, die uns nur noch nicht eingefallen ist.«
    Ich schob meinen Stuhl zurück und wollte gerade aufstehen, als ich von draußen ein Geräusch hörte.
    Ich erstarrte. Mum wollte schon fragen, was los sei, doch ich hielt ihr die Hand vor den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie verstand und drehte den Kopf, wobei die Sehnen an ihrem Hals wie gespannte Klaviersaiten hervortraten.
Er kann jetzt nicht kommen,
dachte ich,
er kann unmöglich jetzt kommen! Wir sind noch nicht bereit! Ich bin nicht angezogen! Wir haben noch nicht beschlossen, was wir machen! Bitte, Gott, lass es nur Einbildung sein!
    Doch das Knirschen von Kies, das Quietschen abgenutzter Bremsen, das Klappern und Keuchen von altersschwachem Metall bildete ich mir nicht ein – ein Auto fuhr aufs Haus zu.
    Mum riss vor Angst die Augen auf. Geplatzte Äderchen durchzogen wie rote Graffiti das ungesunde Gelb ihrer Augäpfel.
    »Da ist er!«, flüsterte sie, und das Flüstern war so laut wie ein Schrei. »Er ist schon hier!«

37
    »Was machen wir, Mum?«, schrie ich, aber sie war schon aufgestanden, schnappte sich die Waffe und steckte sie eilig in die Bauchtasche ihrer Fleecejacke.
    Sie schoss herum, kam ganz nah heran und umklammerte mit der rechten Hand mein Handgelenk. »Überlass das mir, Shelley!
Du
machst nichts, und
du
sagst nichts! Überlass das mir!«
    Die Ankunft des Erpressers hatte sie völlig verwandelt. Plötzlich war sie aufgedreht, durchströmt von einer harten, entschlossenen Energie. Stumpfsinn und Trägheit fielen innerhalb von Sekunden von ihr ab. Sie schob sich ungeduldig das Haar aus den Augen und marschierte ins Wohnzimmer. Ich stand gehorsam auf und folgte ihr.
    Wohn- und Esszimmer waren viel dunkler als die Küche, weil hier keine Morgensonne hereindrang. Der Kamin, das Klavier, die Sessel und das Sofa wirkten dunkel, massiv und düster, und meine Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Mum, die genau vor dem Fenster stand, war nur als Umriss zu erkennen. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, ihr nahe zu sein, während sich die unbekannte Gefahr dem Haus näherte. Ich ging zu ihr, und meine Beine waren wacklig und unsicher wie bei einem Kleinkind.
    Das Knirschen von Kies und das trockene Quietschen der Bremsen wurde lauter, bis der Wagen vor dem Wohnzimmerfenster auftauchte.
    Ich hielt abrupt inne, traute meinen Augen nicht – plötzlich war ich davon überzeugt, noch zu schlafen, weil diese Erscheinung eigentlich unmöglich war. Vielleicht befand ich mich noch in den Fängen eines

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